Mira Wunder und das Wollkombinat wünschen allen Besuchern eine märchenhafte Adventszeit.

Nach einer Weile, die sie schweigend durch den Wald gelaufen waren, schimmerte Licht durch die Finsternis und der Fremde blieb stehen. Vor ihnen auf einer Lichtung, die noch kleiner war, als die, von der sie kamen, stand ein verfallenes Haus. Viel war davon nicht zu erkennen, denn durch zwei trübe Fenster rechts neben dem Eingang fiel nur ein spärlicher Lichtschein, doch früher einmal musste es ein stattliches Gebäude gewesen sein. Chiara versuchte sich zu erinnern, was die alten Geschichten der Gegend über ein Herrschaftshaus im Wald erzählten. Sie hatte davon gelesen, aber es wollte ihr nicht mehr einfallen, was es damit auf sich hatte. Sie hatte so viele Geschichten gelesen, Sagen, Märchen. Das meiste davon war ohnehin nur Fantasie.
Der Fremde stand noch immer am Rand der Lichtung, und er hielt noch immer ihr Handgelenk. Lose jetzt, als hätte er vergessen, dass sie überhaupt da war. Er stand einfach nur da und starrte das Haus an.
Fiel ihm erst jetzt, als er sie hier her gebracht hatte, auf, wie verwahrlost es war? Chiara räusperte sich.
"Laternen?"
"Gleich." Er ließ ihr Handgelenk los und wandte sich ihr zu.
"Übrigens", sagte er und zupfte einen trockenen Zweig aus ihrem Haar, "Furcht kann man auch riechen."
Etwas wie ein Lächeln huschte über sein Gesicht, dann wandte er sich dem Haus zu und ging los. Es schien für ihn selbstverständlich, dass sie ihm folgen würde.
 
Sieben ausgetretene, rissige Stufen führten zum Eingang hinauf. Zwischen den Steinen wuchs Gras. Es sah nicht aus, als wäre die Treppe kürzlich benutzt worden. Und doch musste es so sein, schließlich wohnte der Fremde mit seinen Eltern hier. Die hohe Eingangstür, von der mehrere Schichten in der Dunkelheit nicht näher erkennbarer Farbe abblätterten, knarzte laut, als der Fremde sie einen Spalt breit öffnete. Gerade so weit, dass sie beide hindurch schlüpfen konnten. Von der Eingangshalle, in der sie nun standen, konnte Chiara nicht das Geringste erkennen, doch sie musste riesig sein, denn als die Tür mit einem dumpfen Knall ins Schloss fiel, gab es ein Echo. Finstere Gemäuer, Burgverließe. Erst jetzt fiel Chiara auf, dass es nicht die Kleidung des Fremden gewesen sein konnte, die den Modergeruch ausströmte, sonst hätte sie ihn bemerken müssen, als er ihren Sturz aufhielt oder als er sie hinter sich herzog.
Unmittelbar bevor die Tür zugefallen war und den letzten noch so schwachen Lichtschimmer ausgesperrte, hatte der Fremde wieder Chiaras Hand ergriffen. Vorsichtig führte er sie dorthin, wo sich der Raum befinden musste, aus dem der Lichtschein nach draußen gedrungen war. Behutsam schob er die Tür auf, die sich geräuschlos öffnen ließ. Er hielt Chiara zurück und trat als erster ein. Unter dem Türstock blieb er stehen, so dass er mit seinem Körper Chiaras Blick in den Raum versperrte.
"Guten Abend", grüßte er höflich und deutete eine Verbeugung an. "Mutter? Vater? Ich habe Besuch mitgebracht."
Ein Rascheln, ein Wispern, ein kalter Luftzug. Dann trat er weiter in den Raum hinein und gab den Eingang frei.
Nun war es Chiara, die überrascht auf der Schwelle stehen blieb. Der Raum war viel kleiner, als sie nach der Größe des Hauses und der Halle erwartet hatte. Wahrscheinlich hatte er früher den Dienstboten zum Aufenthalt gedient. Vielleicht war es auch eine Art Wachstube gewesen. Jetzt schien er für die Familie des Fremden Küche, Wohn- und Schlafraum zugleich zu sein. Ein eiserner Herd in der Ecke warf ungesunde Hitze. Auf der Herdplatte stand ein schmuddeliger Topf, in dem eine undefinierbare Suppe vor sich hin köchelte. Regale an den Wänden enthielten angeschlagene Tassen und rissige Teller. Auf einem Bord stapelten sich Schüsseln verschiedenster Formen so hoch, dass Chiara sich fragte, weshalb sie nicht längst herunter gefallen waren. In der gegenüberliegenden Ecke standen zwei Sofas, die auch schon bessere Zeiten gesehen hatten, überladen mit knautschigen Kissen und zerknitterten Decken. Auf den wackeligen Tisch in der Mitte des Raumes hatte man mehrere Kerzen mit Wachs direkt auf die zerkratzte Tischplatte geklebt. Auf Stühlen, die nicht stabiler aussahen als der Tisch, hockten die Eltern des Fremden. Beide sahen ebenso schmuddelig aus wie der gesamte Raum. Der Vater war ein unscheinbarer Mann mit grauer Gesichtshaut und Hängebacken. Auch sein strähniges, schulterlanges Haar war grau. Er trug ein fleckiges Hemd und eine schlabberige Hose. Vor ihm auf dem Tisch stand ein angeschlagener Krug. Chiara vermutete, dass er Bier enthielt oder etwas anderes Alkoholisches. Die gerötete Nase des Mannes, das einzig Farbige an ihm, ließ darauf schließen. Die Mutter sah nicht gepflegter aus als ihr Mann. Ihr aufgedunsenes Gesicht wurde von wirrem dunklem Haar eingerahmt, durch das sich graue Strähnen zogen. Sie trug einen blaugrauen Kittel, der alles sein konnte. Kleid, Schürze, Nachthemd. Eine zur Hälfte gerauchte Zigarette lag vor ihr auf einem schäbigen Teller. Sie schien sie vergessen zu haben. Ihre Stimme war nur ein Krächzen, als sie fragte: "Besuch? Wer ist das?"
Und der Vater lallte: "Brauchen keinen Besuch. Fremdes Weibsvolk. Was will sie hier?"
Der Fremde machte eine Geste, als wollte er Chiara seinen Arm um die Schultern legen, ließ es dann aber bleiben und wandte sich wieder an seine Eltern: "Mutter, Vater, das ist…" Er hielt inne und sah Chiara eine Zeitlang unverwandt an. Dann fuhr er an seine Eltern gewandt fort: "Das ist Chiara. Ich habe sie auf der Lichtung getroffen."
Woher weißt du meinen Namen?
"Auf der Lichtung?" Der Vater war aufgesprungen. Seine Stimme klang scharf und keineswegs mehr wie die eines Betrunkenen.
"Eldoran, was soll das?" Auch die Stimme der Frau hatte sich verändert. Sie klang voll und dunkel, und Sorge schwang in ihr mit.
Eldoran heißt du also. Was für ein Name.
"Schick sie weg", forderte der Vater. "Augenblicklich!"
Eldoran blieb ruhig: "Wir gehen gleich. Ich will nur zwei Laternen holen, dann bringe ich sie zur Stadt zurück."
"Du gehst nirgendwo hin. Schick sie weg."
"Gewiss nicht. Sie ist in Gefahr da draußen." Jetzt war auch Eldorans Tonfall schärfer geworden.
"Du bist gefährdeter als sie. Du hättest sie niemals herbringen dürfen. Sie bringt nichts als Unheil." Wütend hieb er seine linke Faust in die rechte Handfläche.
"Balendar, lass ihn gehen." Eldorans Mutter legte beruhigend eine Hand auf den Arm ihres Mannes. Eine schlanke, schöne Hand mit sehr langen, sorgsam gepflegten Fingernägeln.
Chiara zwinkerte. War das möglich?
Balendar schien sich tatsächlich ein wenig zu beruhigen.
"Aber keine Laternen", knurrte er.
"Wir brauchen Licht. Ich kenne mich im hellen Wald nicht so gut aus. Nicht bei Nacht. Außerdem fallen wir mit Laternen weniger auf, als mit Schwarzlichtern."
"Dann", er atmete tief aus und schüttelte die Hand seiner Frau von seinem Arm. "Dann nimm wenigstens…"
Er stutzte und seine Stimme gewann wieder an Schärfe, als er fragte: "Wo ist Gotahardt?"
Gotahardt? Hatte er einen Bruder? Einen Freund? War es der, mit dem er gekämpft hatte? Und was war mit ihm geschehen?
"Ich habe es auf der Lichtung gelassen."
Es? Ein Tier? Ein Pferd vielleicht?
Balendar schnaubte. Und dann hörte sie Eldorans Stimme, so klar wie eben, als er mit seinem Vater gesprochen hatte. Doch sie klang nicht durch den Raum. Eldoran sprach nicht. Seine Lippen waren fest aufeinander gepresst. Nur seine Augen hielten Chiaras Blick fest. Und doch hörte sie klar und deutlich die Worte: Gotahardt ist ein Schwert.