Mira Wunder und das Wollkombinat wünschen allen Besuchern eine märchenhafte Adventszeit.

Sie berichtete von Eldoran, Tenara und Balendar. Von dem Schneesturm im Herrenhaus und von ihrer Flucht. Erzählte, warum sie zurückgekehrt war, obwohl sie das selbst nicht genau wusste, und wie sie den scheinbar leblosen Eldoran gefunden hatte. Berichtete von den beiden Polizisten, dem Rettungshubschrauber und ihrem Besuch im Krankenhaus, das sie fluchtartig wieder verlassen hatte.
Als sie geendet hatte, herrschte Stille im Raum. Die Kerzen flackerten ein wenig und ein paar waren bereits herunter gebrannt.
Mehle holte sehr tief Luft, bevor sie fragte: "Und was willst du jetzt tun?"
"Ich dachte, Sie… du könntest mir das sagen."
"Ich kann dir Erklärungen geben, vielleicht einen Rat. Aber was du tust, musst du selbst entscheiden. Es ist dein Leben."
"Am liebsten würde ich gar nichts tun. Mich in mein Bett verkriechen, das Wochenende verschlafen und diesen gesamten Alptraum vergessen. Dann könnte ich am Montag ins Büro gehen, und alles wäre wie immer."
"Das, mein Kind", sagte Mehle gütig, aber bestimmt, "ist das Einzige, was nicht geschehen kann. Weil es eben kein Alptraum war. Und weil seit den Geschehnissen beim Herrenhaus nichts mehr so ist, wie es immer war."
Nach einer Pause, in der sie vergeblich darauf wartete, dass Chiara sich äußerte, fügte sie hinzu: "Wenn du nicht zurückgegangen wärest und Tenara, Balendar und Eldoran ihrem Schicksal überlassen hättest, dann hättest du vielleicht so tun können, als sei wirklich nichts geschehen. Aber du bist zurückgegangen. Und du hast Polizisten und Rettungssanitäter ins Herrenhaus gelockt. Menschen, die mit Magie nicht das Geringste im Sinn haben."
"Die Polizisten habe nicht ich angelockt, sondern dieses blödsinnige Unwetter, das die Magier angezettelt haben. Und die Rettungsleute habe auch nicht ich gerufen. Das waren dann die Polizisten. Ich habe nicht so viel damit zu tun." Aufgebracht zeigte sie zwischen Daumen und Zeigefinger den Abstand von etwa einem Millimeter. "Nicht so viel."
"Ich mache dir keinen Vorwurf, mein Kind. Du hast getan, was du tun musstest. Aber was, glaubst du, hätten die Polizisten gesehen, wenn du nicht dort gewesen wärest?"
Chiara überlegte, und Mehle beantwortete ihre eigene Frage: "Sie hätten eine Ruine vorgefunden, in der eine weitere Decke eingestürzt war, vermutlich infolge eines Unwetters. Sie hätten Eisstücke in der Halle gesehen und sie für Hagelkörner gehalten, was bestens in ihre Theorie gepasst hätte. Und dass die Statuen nicht in die Halle gehörten, hätten sie nicht gewusst, weil seit mindestens zweihundert Jahren kein Mensch mehr dort gewesen ist. Jedenfalls keiner, der nicht über ein Minimum an Magie verfügte."
"Ja, aber genau das haben sie ja auch gesehen", ereiferte sich Chiara. Sie hatte doch glaubhaft versichert, dass Eldoran und sie, ein Pärchen bei einem Waldabenteuer, vom Unwetter überrascht worden waren. Die beiden Polizisten jedenfalls hatten ihr geglaubt.
"Sie haben gesehen, was sie sehen sollten, und geglaubt, was sie glauben wollten. Und das hätte auch gut gehen können, wenn du sie nicht auf Eldoran aufmerksam gemacht hättest." In Mehles Stimme schwang Vorwurf mit. "Und zu allem Überfluss musstest du auch noch Altrendil mitschleppen."
Chiara war nun endgültig wütend. Hatte sie nicht genug Ärger und Not gehabt? Musste sie sich dann auch noch Vorwürfe gefallen lassen? Was bildete dieses alte Weib sich ein?
"Was willst du eigentlich von mir. Du bist nicht die gütige alte Nachbarin, die sich um mich sorgt", zischte sie. "Was bist du überhaupt? Auch eine Zauberin? Eine von denen?"
Als hätte man einen Schalter umgelegt, der einen anderen Modus aktivierte, lehnte sich Mehle in die Polster zurück und entspannte sich sichtlich, was Chiara nur noch mehr aufregte: "Und mitgeschleppt", sie kreischte beinahe, "mitgeschleppt habe ich auch niemanden. Erst recht keinen Altrendil. Wer soll das denn sein?"
Mehle blieb gelassen. Ihr war soeben klar geworden, dass Chiaras Verhalten und all die Fehler, die sie begangen hatte, nicht auf Bosheit oder gar Berechnung zurückzuführen waren, sondern einzig und allein auf ihre Unwissenheit. Diese arme jungen Frau war da in etwas hineingeschlittert, das ungeahnte Folgen haben konnte, nicht nur für sie selbst, sondern für die gesamte magische Welt, und, schlimmer noch, wenn sie es nicht wieder in den Griff bekamen, für die gesamte Menschheit. Und das alles nur, weil sie über eine Magie verfügte, von der sie bis vor 48 Stunden noch nicht einmal geahnt hatte, dass es sie gab, und die sie nicht beherrschte.
So dringend es auch war, sich um Eldoran zu kümmern und den Schaden zu begrenzen, der entstanden war, weil Menschen, die keine Ahnung davon hatten, mit höherer Magie in Berührung gekommen waren, noch wichtiger war jetzt, dass Chiara wenigstens über die Grundbegriffe ihrer Begabung informiert wurde und lernte, sie zumindest so weit zu beherrschen, dass sie sie nicht aus Versehen einsetzte. Doch womit sollte sie beginnen? Mehle betrachtete ihr Gegenüber nachdenklich.
Chiara war noch immer aufgebracht: "Ich hab dich was gefragt!"
Mehle seufzte: "Also gut. Ich bin keine Zauberin. Ich bin Magierin."
"Das ist das Selbe", sagte Chiara trotzig.
Mehle lachte: "Das ist nicht einmal das Gleiche. Zauberei gehört in die Märchenbücher. Stroh zu Gold spinnen, hundertjährige Dornenhecken. Zauberstäbe, mit denen man Menschen in Katzen verwandeln kann. Obwohl…" Mehles Stimme verlor sich.
Als müsse sie sich selbst zur Ordnung rufen, schüttelte sie den Kopf und fuhr fort: "Zauberer sind Fabelwesen. Produkte der Fantasie. Magier hingegen sind ganz normale Menschen. Menschen mit einer besonderen Begabung. So wie Sänger mit einer tollen Stimme und Handwerker mit geschickten Händen.
Magie ist etwas vollkommen Natürliches. Etwas, das es schon immer gegeben hat und immer geben wird, selbst, wenn der letzte Magier sterben würde. Die Magie würde bleiben."
Chiara, die sich ein wenig beruhigt hatte, sagte: "Ich verstehe das nicht. Menschen in Katzen verwandeln ist Zauberei, sagst du."
"Genau. Und Zauberei gibt es nicht."
"Was ist so anders an dem, was Tenara und Balendar getan haben. Ein verkeimter Suppentopf war ein Kupferkessel, ein Knüppel", Chiara hielt erschrocken inne.
Mehle antwortete ruhig, als hätte sie nichts bemerkt: "Es ist nur das, was du gesehen hast. Magie ist die Kraft deiner Gedanken. Und die Kraft der Gedanken anderer Magier, welche die deinen beeinflussen können. Was Tenara und Balendar dir gezeigt haben, als du ins Zimmer kamst, war eine Illusion, die sie Kraft ihrer Gedanken in deine gepflanzt haben. Nur eine Illusion, die sie nicht mehr aufrecht erhalten mussten, als sich herausstellte, dass auch du eine Magierin bist. Oder die sie nicht mehr aufrecht erhalten konnten, weil sie ihre Kräfte für anderes brauchten."
"Du meinst, der Suppentopf hat nie existiert?"
"Der Suppentopf, den du gesehen hast, war zu keiner Zeit ein Suppentopf. Er war immer ein Kupferkessel. Und Altrendil war nie ein hölzerner Knüppel. Es ist zu jeder Zeit ein Schwert, auch jetzt. Wo ist es?"
Diese letzte Frage kam wie ein Schuss aus dem Hinterhalt, und bevor Chiara es richtig begriff, sagte sie: "Im Kofferraum."
Mehle zog anerkennend die Augenbrauen nach oben: "Metall zwischen Metall verstecken. Keine schlechte Idee."
Chiara behielt für sich, dass sie das Schwert hauptsächlich deshalb im Auto gelassen hatte, weil Mehle dazu keinen Schlüssel besaß. Wahrscheinlich wusste die alte Hexe das ohnehin. Dann nahm ein anderer Gedanke Gestalt an.
"Warte mal, wenn das stimmt, dann könnten wir doch Eldoran ganz einfach heilen. Wir müssten nur hingehen und ganz intensiv daran denken, ihn aufzuwärmen. Dann würde er aufwachen und wir könnten ihn mitnehmen."
"Grundsätzlich ist das richtig. Die Idee hat nur zwei Schönheitsfehler." Mehle erklärte Chiara, dass einfache Illusionen durch direkten Kontakt erzeugt und aufrecht erhalten wurden. Sollte eine Illusion über längere Zeit oder weite Entfernungen Bestand haben, musste sie an den Gegenstand oder auch an den Menschen gebunden werden. Das konnte durch Formeln geschehen oder durch Sprüche, die man kennen musste, um die Illusion wieder zu lösen. Es konnten auch andere Mittel zu Hilfe genommen werden, Kräuter oder Mineralien oder Energien, die an bestimmten Orten existierten. Es war auch möglich, Magie mittels langwieriger Rituale zu binden. Und es gab Illusionen, die bei Lebewesen, egal ob Pflanze, Tier oder Mensch, gewisse Reaktionen auslösten. Einmal initiiert, mussten diese Illusionen selbst gar nicht mehr wirken, denn die Reaktionen dauerten an und konnten nur durch eine neuerliche Illusion gestoppt werden. Mehle vermutete, dass genau so etwas bei Eldoran am Wirken war. Doch solange sie nicht wussten, womit Thorendal die Magie an Eldoran gebunden hatte, würden sie es nicht schaffen, die Bindung zu lösen.
"Unmöglich ist es nicht", sagte Mehle. "Aber wir wissen ja nicht einmal, wer Eldoran das angetan hat. Und wenn es wirklich Thorendal war, was ich vermute, dann haben wir beide allein keine Chance. Die beiden entstammen der gleichen Blutlinie. Eine stärkere Bindung könnte es nur noch zwischen Tenara oder Balendar und Eldoran geben. Die beiden wären die Einzigen, die Thorendals Bindung allein aufheben könnten, ohne den genauen Spruch zu kennen. Unser beider Kräfte würden dafür nicht ausreichen."
Als ihre Überlegungen zu diesem Punkt gelangt waren, ergab sich der Gedanke, was sie tun konnten, von selbst.
"Es liegt auf der Hand, Chiara. Du musst zum Herrenhaus, Tenara oder Balendar holen."
"Wieso ich? Du bist eine erfahrene Magierin. Warum holst du die beiden nicht?"
"Weil ich all meine Kraft und Erfahrung dafür brauche, Eldoran zu schützen, damit die Ärzte ihn nicht mit Medikamenten vollpumpen, die nicht das Geringste nützen, ihm aber sehr schaden könnten. Und das Ganze verpackt in jede Menge Illusionen, damit nicht noch mehr Uneingeweihte auf die Idee kommen, mit dem unterkühlten Unbekannten könne irgendetwas nicht stimmen."