Mira Wunder und das Wollkombinat wünschen allen Besuchern eine märchenhafte Adventszeit.

Weit kam Chiara nicht. In ihrer Hast, das unheimliche, magiegeladene Haus so schnell wie möglich hinter sich zu lassen, hatte sie sich am Waldrand nicht die Mühe gemacht, nach einem Pfad zu suchen, sondern war mitten in das Dickicht hinein gelaufen. Das erwies sich schon nach wenigen hundert Metern als Fehler. Die Bäume am Saum der Lichtung hatten mit ihrem gelben Laub im Sonnenlicht geradezu gestrahlt und waren ihr nach all dem Chaos der vergangenen Nacht verlockend friedlich erschienen. Doch schon wenige Schritte tiefer im Wald hatten hohe Tannen und Fichten die lichten Laubbäume abgelöst und standen hier so dicht, dass kein Sonnenstrahl bis zum Boden durchdringen konnte. Zwischen den grauen, abgestorbenen unteren Ästen der Nadelbäume herrschte ein unbestimmtes Schummerlicht, in dem sich Chiara unweigerlich fragte, ob sie überhaupt noch in die richtige Richtung lief. Unschlüssig blieb sie stehen und sah sich um. Doch die dicht stehenden Stämme sahen alle gleich aus und boten ihr keine Orientierung.
Irgendwann gestern Abend hatte Eldoran etwas von einem Hellen Wald gesagt, in dem er sich nicht so gut auskannte, während er sie mit geradezu schlafwandlerischer Sicherheit durch diesen Teil des Waldes geführt hatte, den er den Finsteren nannte. Jetzt wusste Chiara, warum der Wald diesen Namen trug. Wie sie je wieder hinaus finden sollte, wusste sie allerdings nicht. Doch alles Zögern und Grübeln half nichts. Sie konnte schließlich nicht ewig hier stehen und darauf warten, dass ein Wunder geschah und jemand vorbei kam, der ihr den Weg weisen konnte. Am allerwenigsten Eldoran, den sie in dem fürchterlichen Haus zurückgelassen hatte.
Sie wusste ja nicht einmal, ob er überhaupt noch am Leben war. Vielleicht hatte der Blizzard ihn besiegt. Vielleicht hatte dieser Eissturm ja auch nur deshalb wüten können, weil Eldoran und Balendar zuvor von diesen fremden Magiern besiegt worden waren.
Wo auch immer sie jetzt sein mochten, ihr half das alles nichts. Sie musste allein ihren Weg finden. Wenn sie nur immer die gleiche Richtung beibehielt, musste sie irgendwann das andere Ende des Waldes erreichen. So raffte sie ihre Röcke, damit sie sich nicht dauernd im Unterholz verhedderten, und lief wieder los. Langsamer jetzt, denn sie musste ihre Kräfte einteilen.
Es war ein schwieriges Unterfangen, die Richtung einzuhalten, und Chiara hatte keine Ahnung, ob es ihr überhaupt gelang. Je tiefer sie in den Wald eindrang, umso dichter schloss er sich um sie. Mittlerweile herrschte ein so düsteres Dämmerlicht, dass sich Chiara fragte, ob draußen über dem Wald vielleicht schon der Abend herab sank. Sie hatte keinerlei Gefühl mehr dafür, wie lange sie sich schon durch das Dickicht kämpfte. Sie wunderte sich nur darüber, dass sie nicht längst vor Erschöpfung zusammengebrochen war. Schließlich hatte sie die ganze Nacht kein Auge zugetan. Und wann hatte sie überhaupt das letzte Mal etwas gegessen? Mit einem Mal hatte sie auch entsetzlichen Durst. Sie blieb wieder stehen und hob den Blick zum Himmel. Doch sie konnte ihn nicht sehen. Ihr Blick verlor sich in dem dunkelgrünen Gewirr aus Ästen, Zweigen, Nadeln, Zapfen. Der Wald, die Bäume begannen sich um sie zu drehen, erst langsam, dann immer schneller, wie auf einem Kettenkarussell. In dem Moment, als die Ohnmacht nach ihr griff, hörte sie ganz dicht an ihrem Ohr Tenaras Stimme. Sie klang so nah, als stünde Tenara dicht neben ihr. Gleichzeitig schien sie von sehr weit her zu kommen. Chiara wusste mit einem Mal, so, als hätte sie das schon immer gewusst, dass sich Tenara der stillen Sprache bediente, um sie zu rufen.
Chiara, komm zurück. Hilf uns. Rette Eldoran.