"Wieso sind Sie denn schon auf? Ich wollte Sie nicht wecken."
"Es ist fünf Uhr morgens. Da schläft so eine alte Schachtel wie ich nicht mehr." Wie alt Frau Mehle genau war, wusste Chiara nicht. Ihr 90. Geburtstag lag jedenfalls schon einige Zeit zurück.
"Kind, wie sehen Sie denn aus? Was ist überhaupt geschehen und wer waren diese Leute?" Frau Mehles Fragen rissen nicht ab. Chiara wollte die alte Frau nicht vor den Kopf stoßen, hatte aber auch keinen Nerv, viel zu erklären.
"Machen Sie sich bitte keine Sorgen. Ich hatte mich beim Spazierengehen verlaufen und die Polizisten haben mich gefunden und nach Hause gebracht. Den Rest erzähle ich Ihnen morgen, ähm, nachher."
Sie waren inzwischen bei Chiaras Wohnung angekommen, und die junge Frau hatte bereits einen Fuß in den dunklen Flur gesetzt. Die Nachbarin stand gegenüber an der Tür zu ihrer eigenen Wohnung und sah Chiara nachdenklich an, als überlege sie, ob sie die nächsten Sätze überhaupt sagen sollte. Dann entschloss sie sich doch dazu.
"Diesen Stock da, den wollen Sie doch nicht mit in Ihre Wohnung nehmen? Geben Sie ihn mir."
Was willst du damit?
Laut sagte sie: "Das ist ein Andenken an den Wald. Ich möchte ihn behalten."
War da ein ungewohntes Funkeln in Frau Mehles Augen?
In diesem Moment erlosch das Licht im Treppenhaus. Chiara trat in ihre Wohnung. "Bis nachher dann und danke, dass Sie mich eingelassen haben", sagte sie schnell. Dann schloss sie eilends die Tür. Den Knüppel nahm sie mit in die Küche, wo sie zwei Kerzen anzündete. Die frühe Morgenstunde vertrug kein grelles Licht. Im flackernden Kerzenschein betrachtete sie ihre Beute und erwartete beinahe, dass sie sich in der Sicherheit ihrer kleinen Wohnung wieder in das dunkle Schwert verwandeln würde. Doch nichts dergleichen geschah. Kopfschüttelnd stellte sie den Stock in die Ecke neben den Mülleimer.
Sie stand schon unter der Dusche, als sie ein eigenartiges Gefühl beschlich, als dürfe sie das Schwert - den Stock - nicht unbeaufsichtigt zurück lassen. Sie drehte das Wasser wieder ab, sauste in die Küche und kam mit dem Stecken zurück. Bevor sie erneut in die Dusche stieg, schloss sie, entgegen all ihren Gewohnheiten, die Badezimmertür ab.
Nachdem sie sich erfrischt und eine Tasse Kaffee aufgebrüht hatte, suchte sie einen Platz für den Knüppel. Irgendetwas sagte ihr, dass es nicht gut wäre, ihn offen in der Wohnung liegen zu lassen, doch keines der Verstecke schien passend. So nahm sie ihn mit ins Schlafzimmer, während sie sich ankleidete und trug ihn wieder ins Bad, als sie ihr Haar bürstete und zu einem festen Zopf flocht.
Die Dämmerung zog herauf, als Chiara sich wieder aus ihrer Wohnung stahl, die Treppen hinunter schlich und den Hinterausgang durch den Keller nahm, falls Frau Mehle wieder am Fenster auf der Lauer lag.
Was waren das nur für Gedanken? Die gute Seele hatte so etwas nicht verdient, doch Chiara wurde das Gefühl nicht los, sich verbergen zu müssen, nicht nur vor Frau Mehle. Sie konnte aber ebenso wenig umhin, herauszufinden, was aus Eldoran geworden war. Deshalb machte sie sich nun auf den Weg ins Notfallzentrum.
Sie trug ihre unauffälligste Kleidung, einen grauen Rock und einen Pullover in dunklen Blautönen. Den Stock hatte sie in zwei Bogen Geschenkpapier eingeschlagen und legte ihn auf die Rückbank ihres Kleinwagens.
Am Notfallzentrum packte sie ihn in den Kofferraum, schloss den Wagen ab und vergewisserte sich, dass die Türen sich auch wirklich nicht öffnen ließen.
Der Empfangstresen des Notfallzentrums war unbesetzt. Chiara überlegte gerade, wie sie Eldoran hier finden könnte, als eine sehr junge Schwester, wahrscheinlich noch in der Ausbildung, auf sie zugeeilt kam. "Warten Sie schon lange? Kann ich Ihnen helfen?"
Chiara fragte nach Eldoran. "Vor etwa zwei Stunden eingeliefert. Sehr stark unterkühlt."
"Ach ja, ich weiß. Sind sie eine Verwandte?"
"Seine Verlobte."
"Dann kommen Sie."
Was war nur los mit ihr? Seit wann log sie wie gedruckt? Das war so ganz und gar nicht ihre Art gewesen und sie hatte nie für möglich gehalten, mit welcher Leichtigkeit ihr jetzt eine Lüge nach der anderen über die Lippen kam. Diese Magier waren eindeutig kein guter Einfluss.
Unterwegs erzählte das junge Mädchen, zu welchen Erkenntnissen die Ärzte bei Eldoran gelangt waren.
"Viel ist es nicht", plapperte sie nervös. "Im Grunde wissen wir gar nichts. Keine inneren Verletzungen, äußere sowieso nicht. Es müsste ihm blendend gehen, wenn wir nur seine Körpertemperatur erhöhen könnten. Da wären wir. Sie dürfen nur durch die Scheibe schauen."
Chiara erschrak zutiefst, als sei Eldoran dort liegen sah. Seine Haut war so bleich, dass sie bläulich schimmerte. Die junge Schwester erschrak ebenfalls: "Seine Temperatur ist weiter gefallen." Sie machte sich an den Geräten zu schaffen. Plötzlich war der Gang voller Leute, die heran eilten und in den Raum stürmten, in dem Eldoran lag. Fieberhafte Hektik machte sich breit. Geräte piepten, ein Alarm schrillte. Chiara sah Kanülen, Schläuche, blinkende Monitore. Alles begann, sich um sie zu drehen, schneller und immer schneller. Wie von selbst bewegten sich ihre Füße, sie rannte den Gang entlang, taumelte gegen eine Wand, fing sich wieder und lief weiter.
Sie wusste nicht mehr, wie es ihr gelungen war, ihr Auto zu erreichen. Auch an die Rückfahrt zu ihrer Wohnung hatte sie keine Erinnerung. Als sie sich erschöpft die Treppe hinauf schleppte, hatte sie nur noch einen Gedanken: Sie können ihm nicht helfen. Wenn sie weitermachen wie bisher, bringen sie ihn um.
"Es ist fünf Uhr morgens. Da schläft so eine alte Schachtel wie ich nicht mehr." Wie alt Frau Mehle genau war, wusste Chiara nicht. Ihr 90. Geburtstag lag jedenfalls schon einige Zeit zurück.
"Kind, wie sehen Sie denn aus? Was ist überhaupt geschehen und wer waren diese Leute?" Frau Mehles Fragen rissen nicht ab. Chiara wollte die alte Frau nicht vor den Kopf stoßen, hatte aber auch keinen Nerv, viel zu erklären.
"Machen Sie sich bitte keine Sorgen. Ich hatte mich beim Spazierengehen verlaufen und die Polizisten haben mich gefunden und nach Hause gebracht. Den Rest erzähle ich Ihnen morgen, ähm, nachher."
Sie waren inzwischen bei Chiaras Wohnung angekommen, und die junge Frau hatte bereits einen Fuß in den dunklen Flur gesetzt. Die Nachbarin stand gegenüber an der Tür zu ihrer eigenen Wohnung und sah Chiara nachdenklich an, als überlege sie, ob sie die nächsten Sätze überhaupt sagen sollte. Dann entschloss sie sich doch dazu.
"Diesen Stock da, den wollen Sie doch nicht mit in Ihre Wohnung nehmen? Geben Sie ihn mir."
Was willst du damit?
Laut sagte sie: "Das ist ein Andenken an den Wald. Ich möchte ihn behalten."
War da ein ungewohntes Funkeln in Frau Mehles Augen?
In diesem Moment erlosch das Licht im Treppenhaus. Chiara trat in ihre Wohnung. "Bis nachher dann und danke, dass Sie mich eingelassen haben", sagte sie schnell. Dann schloss sie eilends die Tür. Den Knüppel nahm sie mit in die Küche, wo sie zwei Kerzen anzündete. Die frühe Morgenstunde vertrug kein grelles Licht. Im flackernden Kerzenschein betrachtete sie ihre Beute und erwartete beinahe, dass sie sich in der Sicherheit ihrer kleinen Wohnung wieder in das dunkle Schwert verwandeln würde. Doch nichts dergleichen geschah. Kopfschüttelnd stellte sie den Stock in die Ecke neben den Mülleimer.
Sie stand schon unter der Dusche, als sie ein eigenartiges Gefühl beschlich, als dürfe sie das Schwert - den Stock - nicht unbeaufsichtigt zurück lassen. Sie drehte das Wasser wieder ab, sauste in die Küche und kam mit dem Stecken zurück. Bevor sie erneut in die Dusche stieg, schloss sie, entgegen all ihren Gewohnheiten, die Badezimmertür ab.
Nachdem sie sich erfrischt und eine Tasse Kaffee aufgebrüht hatte, suchte sie einen Platz für den Knüppel. Irgendetwas sagte ihr, dass es nicht gut wäre, ihn offen in der Wohnung liegen zu lassen, doch keines der Verstecke schien passend. So nahm sie ihn mit ins Schlafzimmer, während sie sich ankleidete und trug ihn wieder ins Bad, als sie ihr Haar bürstete und zu einem festen Zopf flocht.
Die Dämmerung zog herauf, als Chiara sich wieder aus ihrer Wohnung stahl, die Treppen hinunter schlich und den Hinterausgang durch den Keller nahm, falls Frau Mehle wieder am Fenster auf der Lauer lag.
Was waren das nur für Gedanken? Die gute Seele hatte so etwas nicht verdient, doch Chiara wurde das Gefühl nicht los, sich verbergen zu müssen, nicht nur vor Frau Mehle. Sie konnte aber ebenso wenig umhin, herauszufinden, was aus Eldoran geworden war. Deshalb machte sie sich nun auf den Weg ins Notfallzentrum.
Sie trug ihre unauffälligste Kleidung, einen grauen Rock und einen Pullover in dunklen Blautönen. Den Stock hatte sie in zwei Bogen Geschenkpapier eingeschlagen und legte ihn auf die Rückbank ihres Kleinwagens.
Am Notfallzentrum packte sie ihn in den Kofferraum, schloss den Wagen ab und vergewisserte sich, dass die Türen sich auch wirklich nicht öffnen ließen.
Der Empfangstresen des Notfallzentrums war unbesetzt. Chiara überlegte gerade, wie sie Eldoran hier finden könnte, als eine sehr junge Schwester, wahrscheinlich noch in der Ausbildung, auf sie zugeeilt kam. "Warten Sie schon lange? Kann ich Ihnen helfen?"
Chiara fragte nach Eldoran. "Vor etwa zwei Stunden eingeliefert. Sehr stark unterkühlt."
"Ach ja, ich weiß. Sind sie eine Verwandte?"
"Seine Verlobte."
"Dann kommen Sie."
Was war nur los mit ihr? Seit wann log sie wie gedruckt? Das war so ganz und gar nicht ihre Art gewesen und sie hatte nie für möglich gehalten, mit welcher Leichtigkeit ihr jetzt eine Lüge nach der anderen über die Lippen kam. Diese Magier waren eindeutig kein guter Einfluss.
Unterwegs erzählte das junge Mädchen, zu welchen Erkenntnissen die Ärzte bei Eldoran gelangt waren.
"Viel ist es nicht", plapperte sie nervös. "Im Grunde wissen wir gar nichts. Keine inneren Verletzungen, äußere sowieso nicht. Es müsste ihm blendend gehen, wenn wir nur seine Körpertemperatur erhöhen könnten. Da wären wir. Sie dürfen nur durch die Scheibe schauen."
Chiara erschrak zutiefst, als sei Eldoran dort liegen sah. Seine Haut war so bleich, dass sie bläulich schimmerte. Die junge Schwester erschrak ebenfalls: "Seine Temperatur ist weiter gefallen." Sie machte sich an den Geräten zu schaffen. Plötzlich war der Gang voller Leute, die heran eilten und in den Raum stürmten, in dem Eldoran lag. Fieberhafte Hektik machte sich breit. Geräte piepten, ein Alarm schrillte. Chiara sah Kanülen, Schläuche, blinkende Monitore. Alles begann, sich um sie zu drehen, schneller und immer schneller. Wie von selbst bewegten sich ihre Füße, sie rannte den Gang entlang, taumelte gegen eine Wand, fing sich wieder und lief weiter.
Sie wusste nicht mehr, wie es ihr gelungen war, ihr Auto zu erreichen. Auch an die Rückfahrt zu ihrer Wohnung hatte sie keine Erinnerung. Als sie sich erschöpft die Treppe hinauf schleppte, hatte sie nur noch einen Gedanken: Sie können ihm nicht helfen. Wenn sie weitermachen wie bisher, bringen sie ihn um.