Mira Wunder und das Wollkombinat wünschen allen Besuchern eine märchenhafte Adventszeit.

Der Wagen holperte über die Lichtung, umrundete das Haus und bog nur wenige Meter von der Stelle, an der Chiara am Morgen kopflos in den Wald gerannt war, in die Schneise ein, von der Robert Namenlos gesprochen hatte. Sie war so schmal, dass der große Geländewagen gerade so hinein passte. Die niedrigen Äste der Tannen, die zu beiden Seiten undurchdringliche schwarze Wände bildeten, peitschten gegen die Windschutzscheibe, kratzen über das Blech und über das Wagendach. Es war, als wollten sie das Fahrzeug samt Insassen festhalten.
Ein seltsames Gefühl stieg in Chiara auf, als riefe der Wald nach ihr. Sie kniff die Augen zusammen, schüttelte den Kopf. Das Gefühl war deutlich schwächer jetzt, aber es verschwand nicht ganz.
Frank Mürrisch - Chiara hatte die beiden Männer mit passenden Namen versehen - trat das Gaspedal durch, beinahe als hätte er den Ruf des Waldes gespürt und versuche nun mit aller Kraft zu entkommen. Der Wagen schlingerte und hüpfte über den unebenen Waldboden. Chiara wurde hin und her geworfen und stieß sich so heftig den Kopf, dass ihr übel wurde. Da war ein Brausen und Rauschen in ihren Ohren. Rührte es von Kopfschmerz und Übelkeit her? War es das Motorengeräusch des schweren Wagens, den Frank rücksichtslos durch das unwegsame Gelände jagte? Oder spielten ihre überreizten Nerven und die Erschöpfung ihr einen Streich?
Chiara umklammerte den Knotenstock mit beiden Händen und murmelte: "Bring uns hier raus."
"Was glaubst du, Mädchen, was ich hier tue?" knurrte Frank. Er umklammerte das Lenkrad genauso fest, wie Chiara ihren Stock. Der Wagen sackte in eine Bodenwelle, knallte gegen Wurzeln, Äste oder was immer sich ihm in den Weg legte. Der Motor röhrte, das Getriebe ächzte. Dann mischte sich ein neues Geräusch in den Tumult: Ein ohrenbetäubendes Krachen wie von berstendem Holz. Eine riesige Tanne löste sich aus dem schwarzen Dickicht zur Rechten und neigte sich zuerst quälend langsam in die Schneise, stürzte dann immer schneller dem Fahrzeug entgegen und prallte mit nicht enden wollendem Prasseln auf das hintere Wagendach, etwa dort, wo Chiara sich Schutz suchend in die Polster drückte. Frank saß weit nach vorn über das Lenkrad gebeugt, als könne er allein durch seine Körperhaltung die Fahrt beschleunigen. Der Baum rutschte vom Heck des Geländewagens ab und blieb mit einem letzten Rauschen seiner schweren Äste quer in der Schneise liegen.
Einen Moment lang schien die Zeit still zu stehen und alle Geräusche hielten den Atem an. Dann preschte der Wagen mit einem befreiten Aufheulen des Motors voran. Die Schneise lag jetzt breit und eben vor ihnen und in der Ferne waren bereits die ersten Lichter von Hochwald zu erkennen.
Robert fand als erster seine Sprache wieder: "Jetzt kommt wirklich niemand mehr dorthin."
"Als ob das jemand wollte", setzte Frank hinzu.
Chiara zog es vor zu schweigen.
Nur einmal kam noch ein kurzer Dialog zustande, als Chiara Frank ihre Adresse nannte.
Mit laufendem Motor hielt Frank vor ihrer Haustür. Er hielt es nicht für nötig, sich zu verabschieden. Robert stieg aus und hielt für Chiara die Wagentür auf. Ein letztes Mal fragte er besorgt: "Wirklich kein Krankenhaus?"
"Nein. Danke. Ähm. Vielen Dank."
"Na dann."
Das Motorengeräusch entfernte sich schnell und Chiara stand allein in der stillen Straße. Sie atmete tief ein und das erste Mal seit unendlich scheinender Zeit fühlte sie sich befreit.
Langsam, auf ihren Stock gestützt, schleppte sie sich zur Haustür und hielt nachdenklich inne. Wo war ihr Schlüssel? Hatte sie ihn in der Ruine gelassen? Hatte sie ihn bei ihrer Flucht im Wald verloren? Sie konnte sich nicht einmal mehr erinnern, ob sie eine Tasche bei sich gehabt hatte. Jetzt jedenfalls hatte sie nur noch ihre zerlumpten Kleider und den Stecken. Damit ließ sich die Tür kaum öffnen. Wohl gab es eine Nachbarin, die sie gern mochte und der sie einen Ersatzschlüssel anvertraut hatte, für Fälle wie diesen. Doch sie konnte Frau Mehle unmöglich zu nachtschlafender Zeit heraus klingeln. Die alte Frau war gütig und hilfsbereit. Aber sie machte sich immer so schnell Sorgen um Nichtigkeiten, und am liebsten sorgte sie sich um Chiara.
Da fiel mit einem Mal ein Streifen Licht durch die Haustür, über ihr wurde ein Fenster geöffnet und ein Kopf erschien in dem hellen Viereck.
"Hab ich's mir doch gedacht", hörte Chiara Frau Mehles Stimme. Dann schlurfte die alte Frau die restlichen Stufen hinunter und ließ Chiara ins Haus.