Mira Wunder und das Wollkombinat wünschen allen Besuchern eine märchenhafte Adventszeit.

Das Laub der Bäume hatte sich goldgelb gefärbt und bedeckte bereits als dichter weicher Teppich den Waldboden. Die schrägen Strahlen der Nachmittagssonne funkelten durch die kahler werdenden Zweige und warfen bewegliche Lichtflecke auf den Boden. Die frische Herbstluft roch nach Erde und feuchtem Holz. Hier und da knackte es im Unterholz, ab und an raschelten welke Blätter. Ansonsten war es sehr still im Wald.
Durch diese stille Idylle eines Herbstnachmittages wanderte Chiara, ein junges Mädchen von knapp 20 Jahren. Sie war allein hier hinaus gekommen, weil sie Abstand gewinnen wollte von allem, was in der Stadt auf sie einstürmte. Da war ihr Vorgesetzter, der gar nicht zu bemerken schien, dass er ihr mindestens doppelt so viele Aufträge übergab, wie ihren Kolleginnen. Machte sie ihn darauf aufmerksam, entgegnete er nur: "Sie machen das schon." Da waren die Kolleginnen, die so offensichtlich über sie tuschelten, dass sie es bemerken musste und die zum Feierabend ihre unfertigen Aufgaben auf Chiaras Tisch ablegten mit Bemerkungen wie: "Du hast doch sowieso nichts besseres vor. Da kannst du das auch fertig machen." Dann liefen sie kichernd davon und Chiara beugte sich wieder über ihren Tisch und erledigte auch die Arbeiten der anderen mit. Schließlich hatten sie recht. Chiara hatte wirklich nichts vor. Nichts, das nicht auch noch ein paar Stunden warten konnte. Sie lebte allein in einer winzigen Wohnung, die diese Bezeichnung kaum verdiente und die sie selbst ihre Schuhschachtel nannte. Dort saß sie an unzähligen Abenden, nähte lange Röcke aus Leinen oder Wollstoff, die ihr bis zu den Knöcheln reichten,oder strickte bunte Pullover und fröhlich gemusterte Socken. Und in einem unbedachten Moment hatte sie zugegeben, dass sie am liebsten Märchen las.
Es ließ sich nicht leugnen: Chiara war anders, als die jungen Frauen in ihrer Umgebung. Das brachte ihr nicht nur eine Menge Arbeit, die andere sich geschickt vom Hals hielten. Nicht nur Tuscheleien hinter ihrem Rücken, die schmerzhaft waren, weil sie sie ja doch bemerkte. Dies machte sie vor allem einsam. Um dieser Einsamkeit zu entgehen, nahm sie immer mehr Aufträge an, blieb nicht nur länger im Büro, sondern nähte und strickte auch für Nachbarn, Bekannte und manchmal sogar für Fremde. Und manchmal wurde ihr das alles zu viel. Dann hatte sie das Gefühl, überhaupt nichts mehr zu schaffen und sich nur noch im Kreis zu drehen. Und dann wollte sie nur noch davon laufen.
Aus einem solchen Gefühl heraus war sie an diesem Nachmittag in den Wald hinaus gegangen. Der nächste Tag, ein Donnerstag, war Feiertag. Auch am Freitag blieb die Firma geschlossen. So lagen vor Chiara vier freie Tage, die sie nicht mit Arbeit füllen wollte. Ganz allein für sich wollte sie diese Tage nutzen. Genießen wollte sie und abschalten.
Genau das tat sie, während sie über den weichen Laubteppich lief, tief die frische Herbstluft einsog und ihre Gedanken schweifen ließ. So gründlich schaltete sie ab, dass sie nicht auf den Weg achtete, den sie nahm und immer tiefer in den Wald hinein geriet, in ein Gebiet, in dem sie nie vorher gewesen war. Auch vergaß sie völlig die Zeit und bemerkte nicht, wie tief die Sonne bereits gesunken war und wie lang sich die Schatten zogen, die sich zwischen den Bäumen ausbreiteten.
Etwas bemerkte sie aber doch. Sie war stehen geblieben, um endlich ihre immer noch krausen Gedanken abzuschütteln und sich mit tiefen Atemzügen an der kühlen Luft zu erfrischen, da spürte sie deutlich eine Veränderung, ohne zunächst sagen zu können, worin sie bestand. In die frische Luft schien sich ein modriger Geruch gemischt zuhaben, doch vielleicht bildete sie sich das nur ein. Oder der Geruch rührte von dem Laub auf dem Boden her. Doch auch die Stille des Waldes schien verändert, tief und undurchdringlich, als verschluckten die Bäume jeden Laut. Die Abendsonne, die schräg durch die Stämme blinzelte, schien alle Kraft verloren und den Kampf gegen die Schatten aufgegeben zu haben.
Plötzlich fröstelte sie, und dieses Frösteln kam nicht von der kalten Abendluft. Unruhig schaute sie sich um und bemerkte nun auch, dass sie sich längst von ihren gewohnten Wegen entfernt hatte und den Rückweg nicht kannte. Da hörte sie Geräusche, die nicht hierher passten, aber wenigstens die bedrückende Stille durchbrachen. Es klang wie ein Keuchen und Schnaufen, als mühte sich jemand mit etwas Schwerem ab.
Chiara wandte sich in die Richtung, aus der die Geräusche kamen. Dort gab es eine kleine Lichtung, auf der sich eine seltsame Szene abspielte. Hinter spärlich belaubten Büschen nur unzureichend verborgen, schaute Chiara zu und mochte ihren Augen kaum trauen.