Mira Wunder und das Wollkombinat wünschen allen Besuchern eine märchenhafte Adventszeit.

Chiara stand ganz still und betrachtete es eine Weile. Nichts deutete darauf hin, dass hier in der Nacht ein erbitterter Kampf getobt hatte. Vielmehr musste dieses Gebäude schon seit sehr langer Zeit eine Ruine sein, denn aus den leeren Fensteröffnungen der oberen Stockwerke wuchsen Birken heraus, deren herbstliches Laub wie Gold glänzte. Mauerstücke waren herunter gebrochen und vor dem Eingang liegengeblieben. Gras war darauf gewachsen und wiegte sich in einem Wind, der so leicht war, dass Chiara ihn gar nicht spüren konnte.
Wie friedlich alles aussah. Und wie still es hier war.
Chiara fragte sich gerade, was sie hier verloren hatte. War nicht vielleicht alles, was sie in den letzten Stunden erlebt zu haben glaubte, nichts weiter gewesen, als ein hässlicher Traum? Wahrscheinlich war es das Beste, wenn sie den Pfad suchte, auf dem sie gestern bis hier her gekommen war, und auf diesem schleunigst den Heimweg antrat. Sie konnte nur hoffen, dass sie niemandem begegnete, denn so, wie sie derzeit aussah, würde man sie womöglich wegen Landstreicherei festnehmen.
Mit einem leichten Kopfschütteln wischte sie die Gedanken fort. Jetzt war sie fest entschlossen, sich auf den Heimweg zu machen. Doch sie rührte sich nicht von der Stelle und ließ den Blick nicht von dem alten Gemäuer dort drüben. Irgendetwas war da, das sie in seinem Bann hielt, so dass sie es nicht über sich bringen konnte fortzugehen. Sie kniff die Augen ein wenig zusammen, und beobachtete das Haus schärfer. War da nicht eine Bewegung gewesen, hinter einem der Fenster im Erdgeschoss? War Eldoran noch immer dort? War er verletzt und brauchte Hilfe? Überhaupt, wieso dachte sie so viel an ihn?
Diese letzte Frage löste etwas in ihr aus, das sich wie Trotz anfühlte.
So ein Unsinn, ich fantasiere. Wahrscheinlich habe ich Fieber und gehöre ins Bett. Es fehlte nicht viel, und Chiara hätte mit dem Fuß aufgestampft, um ihren Entschluss zu bekräftigen, nun endlich nach Hause zu gehen. Sie wandte sich nach links und entdeckte nur wenige Meter von der Stelle, an der sie stand eine Lücke im Gebüsch. Da war der Durchgang zu dem Pfad, der sie nach Hause führen würde.
Als sie gerade den ersten Schritt in diese Richtung setzte, nahm sie aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahr. Sie verharrte. Da war doch jemand im Haus. Sie wagte kaum, sich zu bewegen. Drehte nur den Kopf ein wenig in Richtung Haus und sah gerade noch, wie eine helle Gestalt durch das Portal schlüpfte.
Chiara lauschte, doch die schwere Tür fiel nicht wieder ins Schloss. Das war ihre Chance. Wenn die Tür nur einen Spalt breit offen blieb, konnte sie ins Haus gelangen, ohne dass das Knarren der Tür sie verriet. Ohne weiter darüber nachzudenken, dass, wer immer im Haus war, sie jetzt sehen konnte, wenn er nur einen einzigen Blick durch eines der Fenster warf, rannte Chiara quer über die Lichtung und hastete die grasbewachsenen Stufen hinauf. Vor dem Tor schöpfte sie Atem. Es stand tatsächlich einen Spalt offen, der breit genug war, um sich hindurch zu zwängen.
Drinnen blieb sie abermals stehen, lehnte mit dem Rücken gegen die Wand und betrachtete staunend den Anblick, der ihr jetzt, im Tageslicht, zeigte, was ihr in der Nacht zuvor verborgen geblieben war. Drei Stockwerke hoch erhoben sich die Wände der riesigen Halle. In jedem Stockwerk gab es umlaufende Galerien, die jedoch mit zunehmender Höhe baufälliger und unsicher wurden. Wie es schien, hatte die Natur kurz davor gestanden, sich das Gebäude zurück zu erobern, denn die Säulen, auf denen die Galerien ruhten, waren bis in den obersten Stock hinauf von Efeu umrankt und die Balkone selbst waren von Moos und Flechten überzogen. Das Bemerkenswerteste aber war: Die Halle hatte kein Dach. Jedenfalls keines aus Sparren und Ziegeln.
Hoch oben über dem riesigen Raum, der mehr einem Innenhof ähnelte, als einer Halle, wölbte sich eine Kuppel aus - ja, was war das da oben? Glas? Chiara betrachtete die hohe Kuppel, in der sich das Licht, das hindurch fiel, tausendfach brach. Sie sah den Reif, der im Inneren alles überzog und Efeu, Moos und Flechten zum Glitzern brachte. Mit einem Mal wusste sie, woraus die Kuppel bestand. Eis!
Zu anderen Zeiten, in einer anderen Lage hätte sie diese Halle als romantisch empfunden und sich allerlei Märchen ausgedacht, die hier hätten spielen können. Doch jetzt beobachtete sie, was sich tatsächlich hier abspielte und nicht weniger märchenhaft anmutete.
In der Mitte der Halle standen fünf Männer beieinander, die sich in einer Sprache unterhielten, die Chiara nicht verstand. Alle Fünf waren weiß gekleidet. Sie trugen Pluderhosen, ähnlich denen, die sie bei Eldoran und Balendar gesehen hatte. Die übrige Kleidung wurde von langen, pelzbesetzten Umhängen verhüllt, die in so reinem Weiß leuchteten, dass es Chiara in den Augen schmerzte.
Kristallweiße Magie , schoss es ihr durch den Kopf.
Einer der Männer fuhr herum: "Still! Da ist doch jemand." Nun sahen sich auch die anderen suchend um. Chiara, an die Wand gepresst, hielt den Atem an, der in zarten weißen Wölkchen vor ihrem Gesicht stand. Sie sah zwar lumpig und abgerissen aus, aber ihre dicke wollene Strickjacke war leuchtend bunt, wie alle ihre Strickjacken und Pullover. Sie musste sich deutlich wie ein Signal von der grauen Mauer abheben, vor der sie stand.
Jetzt löste sich einer der Männer aus der Gruppe und kam ein paar Schritte auf sie zu, stockte, und wie Eldoran am Nachmittag zuvor auf der Lichtung sah er ihr geradewegs in die Augen.