Mira Wunder und das Wollkombinat wünschen allen Besuchern eine märchenhafte Adventszeit.

Sie versuchte, sich loszureißen, doch sein Griff war unnachgiebig.
"Lass mich los! Du tust mir weh!" Sie duzte ihn wieder. Zu diesem Grobian musste sie nicht höflich sein.
"Nur, wenn du versprichst, nicht Hals über Kopf in den Wald zu rennen."
"Warum sollte ich?"
"Weil es fast dunkel ist? Weil du den Heimweg nicht kennst? Weil es gefährlich werden kann für ein junges Mädchen, nachts, im Wald, allein?"
Da hatte er nicht ganz Unrecht. Trotzdem begehrte sie auf: "Und du kennst meinen Heimweg. Ja?"
"Nun, ich nehme an, du kommst aus der Stadt." So machten Männer das also, wenn sie die Adresse eine Frau erfahren wollten. Gaben vor, sie bereits zu wissen, damit man sie dann korrigierte. Aber nicht mit ihr. Chiara schwieg beharrlich, bemerkte aber plötzlich, dass der Fremde ihren Arm losgelassen hatte.
"Aber du hast recht", sagte er, und seine Stimme klang plötzlich desinteressiert. "Wir sollten nicht durch den Wald laufen."
Was war das nun wieder?
"Wir gehen zum Haus meiner Eltern und holen Laternen."
Laternen, wie altmodisch. Chiara lächelte, was er nicht sehen konnte, denn er hatte sich abgewandt und war losgelaufen.
"Ja, Laternen", brummte er. "Etwas Moderneres haben wir nicht."
Chiara zuckte zusammen. Hatte sie das etwa laut gesagt? Oder konnte er Gedanken lesen? Durch die Erwähnung seiner Eltern war er ihr für eine sehr kurze Zeit weniger bedrohlich erschienen. Doch nun war er ihr unheimlicher, als zuvor. Sie war sich sicher, dass sie ihre Gedanken nicht ausgesprochen hatte. Trotzdem setzte sie sich, noch immer zögernd, in Bewegung, um ihm zu folgen. Was sollte sie auch sonst tun? Den Heimweg kannte sie wirklich nicht und zurückbleiben und am Rand der Lichtung auf ihn warten, mochte sie auch nicht, jetzt, da er ihre Furcht erst einmal geweckt hatte.
"Es tut mir leid", sagte er versöhnlich. "Ich wollte nicht, dass du dich fürchtest. Deshalb will ich ja die Lampen holen."
Er hätte nichts Schlimmeres sagen können, um sie noch mehr in Angst und Schrecken zu versetzen, denn diesmal war sie sich ganz sicher, dass sie nicht vor sich hingemurmelt hatte. Es waren wirklich nur Gedanken gewesen. Und er hatte die Furcht auch nicht an ihrem Gesicht ablesen können, denn sie hielt sich noch immer ein paar Schritte hinter ihm. Konnte er wirklich Gedanken lesen? Das musste sie ausprobieren.
Kannst du Gedanken lesen?
Sie richtete die Frage direkt an ihn, ohne sie jedoch auszusprechen. Er schwieg.
Sie versuchte es noch einmal, kniff die Lippen fest zusammen, damit ihnen nicht der geringste Laut entschlüpfen konnte und dachte so intensiv sie konnte: Weißt du, was ich denke?
Keine Antwort.
Dann eben nicht. Sie entspannte sich ein wenig und trottete hinter ihm her.
Sie hatten die Lichtung zur Hälfte umrundet, als sie auf einen schmalen Weg trafen, der ins Dickicht führte. Zu Chiaras Verwunderung hatte der Fremde sie am Rand der Lichtung entlang geführt, statt den kürzeren Weg quer darüber zu nehmen. Was hatte es nur mit dieser Lichtung auf sich? Gab es in deren Mitte, dort wo er seinen Schattenkampf aufgeführt hatte, vielleicht doch etwas, das Chiara auf keinen Fall sehen sollte? War es vielleicht doch kein Schattenkampf gewesen? Lange konnte Chiara diesen Gedanken nicht verfolgen, denn die Bäume standen hier viel dichter, als auf der Seite des Waldes, von der Chiara gekommen war. Das Unterholz war fast mannshoch und die Dunkelheit, die hier herrschte, konnte man beinahe greifen. Auch schlug der Fremde jetzt ein schnelleres Tempo an und Chiara hatte Mühe, ihm auf dem schmalen Pfad zu folgen. Mal blieb sie mit ihrem langen Rock an einem Ast hängen. Mal griff eine Dornenranke nach ihrem Haar. Dann wieder kratzte ein kahler Zweig ihre Wange. Der Fremde in seinen schwarzen Kleidern verschmolz mit der Dunkelheit und sie spürte ihn vor sich mehr, als sie ihn sah. Wenn sie nicht Schritt hielt und den Kontakt zu ihm verlor, würde sie ihn niemals wiederfinden. Von dieser neuen Befürchtung getrieben, beschleunige sie ihren Schritt. Doch das war ein Fehler, denn ihr Fuß blieb an einer Wurzel hängen. Sie strauchelte und stürzte. Doch bevor sie auf dem dunklen Waldboden aufschlug, war der Fremde bei ihr, fing sie geschickt auf und stellte sie wieder auf ihre Füße.
Mit einem scharfen Zischen sog sie die Luft ein und versuchte, den Schmerz zu verdrängen, der in ihren Knöchel schoss.
"Was ist?" Er konnte also doch keine Gedanken lesen.
"Mein Knöchel."
"Kannst du gehen?"
Vorsichtig setzte sie den Fuß noch einmal auf den Boden. Augenblicklich schossen tausend glühende Nadeln durch ihr Bein.
"Ich glaube nicht", presste sie unter Schmerzen hervor.
Ohne ein weiteres Wort ging er vor ihr in die Hocke, stellte ihren verletzten Fuß auf seinen Oberschenkel und umschloss ihn fest mit beiden Händen. Aus dem brennenden Schmerz wurde sogleich eine angenehme Wärme, dann Kühle. Chiara wurde schwindelig und die Schwärze um sie herum schien noch undurchdringlicher. Wurde sie jetzt ohnmächtig?
Im nächsten Moment war es vorüber. Er stellte ihren Fuß wieder auf den Boden und erhob sich.
"Jetzt komm!" sagte er tonlos, packte sie am Handgelenk und zog sie hinter sich her.