Mira Wunder und das Wollkombinat wünschen allen Besuchern eine märchenhafte Adventszeit.

Genau das war der zweite Schönheitsfehler, von dem Mehle gesprochen hatte. Selbst wenn sie es schaffen konnten, Thorendals Bindung zu brechen und Eldoran aus seiner Unterkühlung und Starre zu befreien, konnte dies dem Krankenhauspersonal unmöglich verborgen bleiben. Und wie sollte es dann weitergehen?
"Können wir nicht irgendeinen Vergessenszauber anwenden, damit sich niemand mehr erinnert, Eldoran überhaupt gesehen zu haben?"
Mehle schüttelte den Kopf: "Woran würdest du ihn denn binden? An den Raum im Krankenhaus? Vergiss nicht, dass er dann auch wirken würde, wenn andere Menschen in diesen Raum gebracht würden."
"Und die Leute, die mit ihm Kontakt hatten, könnten wir die nicht?" Chiara sprach den Satz nicht zu Ende. Sie hatte selbst bemerkt, wie undurchführbar dieser Plan war.
"Es sind zu viele, stimmt's?" fragte sie resignierend.
"Und du weißt nicht einmal, wer sie sind und könntest nie sicher sein, dass du alle erwischt hast."
Jetzt war es Chiara, die seufzte.
"Und noch etwas hast du übersehen. Diesen ganzen Verwaltungs- und Überwachungsapparat, den die Menschen entwickelt haben. Eldoran wurde da registriert. Sein Hubschrauberflug, seine Einweisung ins Krankenhaus. Vielleicht sogar dein Besuch bei ihm."
"Der sicher nicht", widersprach Chiara schnell. "Das war eine Lehrschwester oder so etwas. Sie war sehr beflissen, mir zu helfen. Wahrscheinlich hatte sie sich unerlaubt von ihrem Posten entfernt und wollte das vertuschen. Sonst hätte sie mich nicht zu ihm gebracht und sie hätte mir auch nichts über seinen Zustand erzählen dürfen. Also, sie hat mich bestimmt nirgends eingetragen."
Dennoch hatte Mehle natürlich recht. Eldoran war registriert, wenn auch nicht unter seinem Namen. In amerikanischen Filmen hießen Leute wie er immer John Doe. Ob es hier auch so einen Namen gab, der für das unpersönliche Wort Unbekannter stand, wusste Chiara nicht.
"Egal, wie wir es anstellen, wir können Eldorans Existenz nicht Vergessen machen. Selbst wenn es mir gelingt, Tenara und Balendar zu holen, daran kann niemand mehr etwas ändern."
Mehle wich Chiaras Blick aus.
"Vielleicht hast du recht", sagte sie so leise, dass Chiara sie kaum verstand. "Vielleicht sollten wir einfach gar nichts tun. In ein paar Tagen ist Eldoran tot. Dann schreiben vielleicht ein paar Zeitungen, dass der unbekannte Patient nun verstorben ist und dass die Polizei noch immer nichts über seine Herkunft weiß, und spätestens am nächsten Wochenende gibt es eine andere Katastrophe und Eldoran ist vergessen. Wir brauchen gar keinen Zauber, die Menschen vergessen schnell genug."
Lauter und mit einer Zuversicht in der Stimme, die sie nicht empfand, fügte sie hinzu: "Lass uns einfach tun, als wäre nichts geschehen. Trink noch etwas." Mit diesen Worten schenkte sie Tee ein, der längst kalt geworden war, weil die Kerze im Stövchen vor Stunden herunter gebrannt war.
In Chiaras Innerem zog sich etwas schmerzhaft zusammen. Das konnte nicht Mehles Ernst sein. Hatte sie vorhin nicht selbst gesagt, dass sie nicht einfach zur Tagesordnung übergehen konnten? Und bedeutete nicht das, was die alte Magierin jetzt vorschlug, dass sie Eldoran einfach sterben ließen? Nein!
Chiara hob den Kopf und zwang Mehle, ihr in die Augen zu sehen. Das ist nicht dein Ernst!
"Es ist eine Möglichkeit."
"Ist es nicht, und das weißt du." Chiara stand auf. "Ich gehe Tenara holen. Jetzt."
Mehle konnte sich das Lächeln verkneifen, das um ihre Lippen spielen wollte. Sie konnte aber nicht verhindern, dass es ihre Augen erreichte. Auch nicht, dass Chiara es bemerkte. "Hexe", zischte diese, doch es klang nicht unfreundlich.
Chiara war schon fast bei der Tür, als Mehle sie zurück rief.
"Warte doch mal. Wie willst du es denn anstellen?"
"Das weiß ich noch nicht. Aber das habe ich beim erstem Mal auch nicht gewusst."
"Dabei ist ja auch eine Menge schief gegangen. Das darf diesmal nicht passieren."
"Immerhin habe ich diesmal eine Ahnung, womit ich es zu tun habe. Wenn ich erst am Herrenhaus bin, wird mir schon etwas einfallen. Hauptsache, ich finde es überhaupt wieder."
"Kennst du die Pension Waldfrieden?"
Wer kannte die nicht?
"Bis dorthin kannst du das Auto nehmen. Neben dem Parkplatz beginnt die Schneise, durch die ihr gekommen seid. Es ist nicht sehr weit bis zur umgestürzten Tanne."
Woher weiß sie das?
Mehle ließ sich nicht anmerken, ob sie Chiaras stille Sprache vernommen hatte. Unbeirrt fuhr sie fort: "Von da an dürfte es schwierig werden. Aber Altrendil wird dich führen."
"Ich kann doch nicht mit einem Schwert in den Wald rennen."
"Aber mit einem Wanderstock."
"Wenn es dieser Knüppel bleibt, kann es mir aber nicht helfen, oder?"
"Hast du mir überhaupt zugehört? Es IST ein Schwert. Es sieht nur wie ein Knüppel aus. Und es will nach Hause."
"Nach Hause?"
"Zu Balendar. Ihm gehört es. Zu ihm will es."
"Es gehört Balendar? Ich dachte…"
"Altrendil ist das Schwert der Väter. Den Söhnen gebührt Gotahardt. So ist es immer gewesen. Warum sie diesmal die Schwerter vertauscht haben, ausgerechnet im Kampf gegen Thorendal, kann ich dir nicht sagen."
Aber Chiara wusste es. Es war ihre Schuld. Eldoran hatte Gotahardt auf der Lichtung gelassen, um es vor ihr geheim zuhalten. Damit hatte alles begonnen. Balendar hatte das Schwert geholt, und dann war alles zu schnell gegangen, als dass sie sich noch darum scheren konnten, wer mit wessen Waffe kämpfte. Vielleicht hatte Thorendal nur deshalb über die beiden siegen können. Ja, es war ihre Schuld.
"Ich mache es wieder gut", sagte sie fest.
"Ja, das wirst du." Mehle umarmte sie zum Abschied.

Es war längst dunkel, als Chiara sich auf den Weg machte. Sie Straßen waren wie leer gefegt. Auch der Parkplatz an der Pension war leer. Das war gut so. Besser, es sah niemand, wie eine einsame junge Frau, gestützt auf einen schweren Wanderstock, in den abendlichen Wald lief. Bald war sie bei der umgestürzten Tanne angelangt. Frank Mürrisch hatte recht gehabt. Kein Mensch käme auf die Idee, dass es hinter diesem Gewirr aus Ästen einen Weg geben könnte oder irgendetwas anderes, das es lohnenswert machte, dieses Hindernis zu überwinden. Chiara wusste es besser. Doch all ihre guten Absichten halfen ihr wenig, den Weg zu finden. Zu beiden Seiten des umgestürzten Baumes war das Tannendickicht so dicht, dass sie unmöglich hindurch gelangen konnte. Sie versuchte, den Baum zu überklettern, rutschte aber ab und fiel. Wäre Altrendil nicht quer an den äußeren Zweigen hängen geblieben und hätte ihren Sturz zwischen die Äste gebremst, wer weiß, ob sie jemals wieder daraus hervor gekommen wäre. Ratlos saß sie wieder vor dem Baum im Gras.
Altrendil wird dich führen, hatte Mehle gesagt.
"Dann führ mich mal", sagte Chiara, doch der Stecken rührte sich nicht. Führen, ging es Chiara durch den Kopf. Ein Schwert führen. Sagte man nicht so?
"Also gut, wenn du mich nicht führst, werde ich dich führen." Sie packte den schweren Knüppel wieder. Doch wie weiter? Sie kannte sich mit Waffen nicht aus, schon gar nicht mit verwunschenen Schwertern, die viele hundert Jahre alt waren. Trotzdem, sie musste es versuchen. Wenn zutraf, was Mehle behauptet hatte, dass dieser Knotenstock nur wie ein solcher aussah, musste sie mit ihm genauso stechen und hauen können, wie mit einem Schwert, das wie ein Schwert aussah. Doch wie machte man das? Die dicke knorpelige Ausbuchtung am Stock war vermutlich die Parierstange. Dahinter war nur knapp Platz, um das Heft mit beiden Händen zu fassen. Also griff Chiara mit der Rechten hinter, mit der Linken vor die Verdickung. Sie konnte nur hoffen, dass die Klinge eine Fehlschärfe hatte, sonst schnitt sie sich in die Finger. Ein Wunder, dass sie sich nicht längst verletzt hatte. Sie fasste erst vorsichtig zu, dann fester. Hob den Knüppel mit beiden Händen hoch über den Kopf und ließ ihn auf das Astgewirr niedersausen. Der Stecken federte von den Ästen ab und wäre ihr an den Kopf geschlagen, hätte sie ihn nicht vor Schreck losgelassen. Er fiel fast zwei Meter von ihr entfernt auf den Boden. Wie hatte er so weit fallen können? Die Spitze zeigte auf das Dickicht. Chiara hob ihn auf, stach das, was sie für die Klinge hielt, zwischen die Äste und tat etwas, von dem selbst sie wusste, dass man das mit so großen Schwertern nicht tun konnte. Sie führte einen Schlag von unten nach oben. Wie ein heißes Messer in Butter schnitt Altrendil durch das störrische Astwerk. Ein Durchgang öffnete sich. Chiara betrat den Tunnel, den die Äste bildeten. Drinnen war es so dunkel, dass sie nicht einen Schritt weit sehen konnte. So hielt die das Schwert ausgestreckt vor sich und ertastete sich den Weg. Ohne weitere Hindernisse kam sie auf der anderen Seite an. Die Schneise war hier schmaler, lag aber deutlich sichtbar vor ihr. Einen kurzen Moment lang überlegte sie, ob sie den Durchgang hinter sich schließen sollte, doch dann verwarf sie diesen Gedanken. Es konnte gut sein, dass sie den Weg noch einmal benutzen musste, dann vielleicht in Eile. Wenn sie Tenara oder Balendar tatsächlich fand, würden diese wissen, was zu tun war. Sie eilte weiter und erreichte nach kurzer Zeit die Lichtung. Seltsam. In der vergangenen Nacht war ihr der Weg viel weiter vorgekommen.
Chiara blieb stehen und betrachtete die Lichtung. Der Mond goss silbernes Licht über die Ruine des Herrenhauses. Es sah wunderschön aus in dieser stillen Nacht. Chiara sog tief die kühle Nachtluft ein. Schaute, lauschte, fühlte. Das alte Gemäuer dort drüben strahlte Ruhe aus und eine verwunschene Schönheit. Nichts Bedrohliches ging von ihm aus. Sollte sie es wagen, einfach hinüber zu gehen? Ob das Schwert ihr half?
Sie legte es ins Gras, die Spitze auf das Haus gerichtet. Nichts geschah. Sie drehte es um, so dass die Spitze in die Richtung wies, aus der sie gekommen war. Es geschah noch immer nichts. Lässig nahm sie den Stecken auf.
"Autsch!" Und ließ ihn wieder fallen. Aus ihrer Handfläche quollen ein paar Tropfen Blut. Sie hatte sich tatsächlich geschnitten. War es Zufall gewesen, dass sie vorher noch nie um die Mitte des Stockes gefasst hatte? Sie sog an dem Schnitt, bis er aufhörte zu bluten. Ihr Blick fiel auf den Stock. Die Spitze zeigte in Richtung Haus.
Also los. Noch einmal hob sie das Schwert auf, vorsichtiger diesmal. Sie lief quer über die Lichtung, wie sie es schon einmal in der Mittagssonne getan hatte. Auch diesmal blieb sie unbehelligt. Das schwere Portal knarrte, als sie es öffnete. Sonst war alles still. So still, dass sie zusammenfuhr, als das Tor donnernd ins Schloss fiel. Wie hatte sie das vergessen können? Doch auch jetzt blieb ihre Unachtsamkeit folgenlos. Die Mitte der Halle war leer, die Statuen verschwunden. Natürlich, die Magier warteten nicht gerade auf sie. Doch wo waren sie geblieben? Harrten sie irgendwo im Verborgenen? Chiara ließ ihren Blick durch die Halle schweifen, die vom Mondlicht silbrig überflutet wurde und fragte sich flüchtig, weshalb es zwei Tage zuvor hier noch stockdunkel gewesen war. Vielleicht fand sie es heraus, vielleicht auch…
Eine Hand legte sich von hinten über ihren Mund, erstickte jeden Laut der Überraschung. Ein zweiter Arm wurde um ihre Taille geschlungen und zog sie in die Schatten zwischen den efeuumrankten Säulen. Dort ließ er sie los. Sie drehte sich schnell um.
"Balendar", hauchte sie. Er legte einen Finger auf die Lippen und winkte ihr, ihm zu folgen.
Auf der anderen Seite der Halle, gegenüber dem ehemaligen Laboratorium führte er sie in einen langgestreckten Raum. Durch die leeren Fensterhöhlen fiel das Mondlicht. Sonst war der Raum leer.
Doch nein, dort zwischen den Fenstern stand jemand, verschmolzen mit den Schatten. Chiara bemerkte die Gestalt nur, weil sie sich bewegte, sich zu ihr umdrehte.
Tenara.
Chiara, du hättest nicht herkommen sollen. Es war die stille Sprache, die Tenara benutzte. Chiara wusste, dass nur sie allein Tenaras Worte hören konnte und vielleicht noch Balendar, falls Tenara das wollte. Ihrer eigenen Sache war sich Chiara weniger sicher. Deshalb sagte sie: "Ich musste kommen."
Ihre Stimme war nicht mehr, als ein Hauch.
"Ich will euch holen. Nur ihr könnt Eldoran noch helfen."
Das kann niemand. Thorendal hat einen Bann gesprochen, der die Wärme aus seinem Körper zieht. Wenn sein Blut gefriert, ist es vorbei. Mit ihm und mit uns. Dann hat Thorendal endgültig gesiegt.
"Aber ihr könnt den Bann brechen. Ihr seid die einzigen, die das können."
Wir haben es versucht. Mit gemeinsamer Kraft. Es ist zwecklos.
"Ihr seid nur zu weit weg. Deshalb müsst ihr mit mir kommen. Wenn ihr bei ihm seid, könnt ihr es schaffen. Und ihr könnt meine und Mehles Magie noch dazu nehmen."
Mehle? Du kennst Mehle?
"Sie ist meine Nachbarin", sagte Chiara leichthin und ein wenig zu laut. Erschrocken hielt sie den Atem an. Tenaras stille Stimme klang unendlich traurig.
Dann könnte es gelingen. Aber es ist trotzdem zwecklos. Thorendal hat auch uns gebannt. Wir können das Haus nicht verlassen.
"Thorendal." Chiara spuckte den Namen geradezu aus. "Wo ist er jetzt?"
Irgendwo draußen. Das war Balendar. Er wartet ab. Sobald Eldoran tot ist, kann er alle Macht an sich reißen.
"Nicht mit mir!" Chiara flüsterte nicht mehr. Entschlossen stürmte sie an Balendar vorbei zum Ausgang, durch die leere Halle hinaus auf die Lichtung.
Im hellen Mondlicht stand sie dort. Aufrecht, kämpferisch, zu allem entschlossen. Den Knüppel hatte sie neben sich in den Boden gerammt und registrierte flüchtig, dass er endlich wieder wie das Schwert aussah, das er war.
"Thorendal!" Ihre Stimme hallte von den Bäumen am Waldrand wider und brach sich an den Wänden des Herrenhauses hinter ihr.
Zwei Armlängen vor ihr stieg eine Nebelsäule aus der Wiese auf, wurde dichter, formte sich zu einer Gestalt. Schneeweiße Kleider, schneeweißes Haar, ein schneeweißer Umhang.
"Was willst du, Chiara Ausderstadt?" Es klang wie fernes Donnergrollen.
"Nimm den Bann von Eldoran!"
"Warum sollte ich das tun?"
Weil ich dich darum bitte. Laut sagte sie: "Weil er der Sohn deines Bruders ist."
Thorendal musste auch ihre stille Sprache gehört haben, denn bevor sie ihren Satz beenden konnte, warf er den Kopf in den Nacken und lachte dröhnend.
Chiara überlegte fieberhaft. Welchen Anreiz konnte sie ihm bieten, damit er ihr half? Die Schwerter?
"Die Schwerter", er lachte noch immer. "Nutzloses Blech."
Altrendil, auf dessen Knauf Chiaras rechte Hand ruhte, schien zu pulsieren.
"Wie kannst du es wagen?", zischte Chiara und spürte eine ungeahnte Stärke in sich aufsteigen, als müsse sie das Schwert verteidigen, wie eine Löwenmutter ihr Junges. Wie eine Mutter.
"Und wie kannst du es nicht wissen, Chiara die Uneingeweihte?" Thorendals Spott war beißend.
"Altrendil ist das Schwert der Väter, Gotahardt das der Söhne." Das hatte ihr schon Mehle erzählt. Im nächsten Moment bestätigte Thorendal ihre Vermutung.
"Die Narren haben sie vertauscht. Hätte jeder mit seinem eigenen Schwert gekämpft, ich hätte nicht so leichtes Spiel gehabt. Mir nutzen beide nichts. Ich habe keinen Sohn, und mein Vater ist längst nicht mehr am Leben. Also, behalt dein Blech."
Mit einer ausholenden Armbewegung schlug er seinen Umhang um sich und begann, im Nebel zu zerfließen.
"Altrendil IST Eldorans Schwert. Er ist der Vater." Woher nehme ich diese Gewissheit? "Der Vater meines Sohnes." Es klang wie ein Schwur.
Die nebelhafte Gestalt verfestigte sich wieder.
"Du hast einen Sohn?" Thorendal kam ein paar Schritte auf Chiara zu und starrte sie ungläubig an.
Sie rührte sich kaum. Nur ihre Hand schloss sich fester um den Knauf des Schwertes. Ihre Worte hallten laut und klar über die Lichtung: "Ich werde Eldorans Frau. Ich werde ihm Söhne schenken. Die Blutlinie wird fortbestehen."
"Wenn das so ist." Der Magier vor ihr schien zu schrumpfen. Tatsächlich sank er resignierend in sich zusammen. "Dann habe ich hier nichts mehr verloren."
Wieder eine Armbewegung mit dem Umhang, und einige Schritte entfernt materialisierten sich die vier Magier, die Chiara schon einmal in der Halle gesehen hatte.
"Wir ziehen ab. Es ist Eldoran tatsächlich gelungen, ein Weib zu finden."
An Chiara gewandt fuhr er fort: "Die Blutlinie steht über jedem Zirkel. Sie hat immer Vorrang. Das ist uraltes Gesetz. Du hast mich tatsächlich geschlagen. Ein schwaches Weib, das noch nicht einmal richtig eingeweiht ist. Geh nur hin, die Bindungen werden gelöst."
Er wandte sich ab. Ein gebeugter alter Mann.
"Warte!" Chiara lief ihm nach.
"Was denn noch?"
"Du kannst nicht einfach den Bann aufheben und verschwinden. Eldoran ist in einem Krankenhaus. Umgeben von lauter Uneingeweihten. Er kann nicht einfach durch ein Wunder gesund werden, ohne dass es Aufsehen erregt. Zu viel Aufsehen."
"Das weiß ich selbst", knurrte Thorendal. "Was schlägst du vor?"
"Du bist für das Dilemma verantwortlich. Mit deiner Gier nach dem Herrenhaus hat alles begonnen. Nun bring es auch zu Ende."
Da blitze es in Thorendals Augen. Ein Funken seiner Stärke kehrte zurück.
"Dann werden wir mal tun, was wir am besten können und den Uneingeweihten zeigen, dass es Wichtigeres gibt, als die Wunderheilung eines Unbekannten und sein Verschwinden aus einem Krankenhaus."
"Was hast du vor?"
"Das möchtest du nicht wissen."
"Thorendal!" Chiara kreischte. "Menschen dürfen nicht zu Schaden kommen."
Mit beinahe gespenstischer Ruhe entgegnete er: "Man kann nicht alles haben, Chiara Eldoransbraut."
Aus seinem Mund quoll eisiger Rauch, breitete sich aus, hüllte Chiara ein und die vier anderen Magier, die genau wie Thorendal weißen Nebel ausspien. Wind brauste auf, wurde zum Sturm, knickte Bäume am Waldrand. Hagel prasselte auf die Lichtung. Binnen weniger Augenblicke stand Chiara knietief in Eiskörnern, die die gesamte Lichtung bedeckten. Dann wurde sie von einer Bö erfasst und in die Luft gewirbelt. Verzweifelt versuchte sie, sich an dem Schwert festzuhalten, das noch immer im Boden steckte.
"Lass Altrendil hier", brüllte Thorendal über das Heulen des Sturmes hinweg. "Noch gehört es Balendar."
Dann wurde Chiara von einer weitern Bö davon geweht, als sei sie ein welkes Birkenblatt.
In einem Wirbel aus Schnee und Eis tauchte Thorendal neben ihr auf.
"Nimm den Kopf nach oben, Chiara Ichwillzaubernlernen", brüllte er. "Das hier ist höhere Magie."
Mit ständig steigender Macht jagte der Schneesturm auf die Stadt zu. Und mit ihm Chiara, Thorendal und die anderen vier Magier, die sichtlich Freude an dem Chaos hatten, das der Sturm verursachte. Im Vorüberrasen sah Chiara, wie ihr kleines rotes Auto vom Sturm erfasst und gegen einen Baum geschleudert wurde.
In den Straßen türmten sich Schneeverwehungen, Autos, Straßenbahnen und Busse blieben stecken. Dächer wurden vom Sturm abgedeckt, Laternenmasten umgeknickt, Oberleitungen abgerissen.
Auf dem Platz vor dem Notfallzentrum schien der Sturm eine Verschnaufpause einzulegen. Chiara kam zum Stehen. Neben ihr landeten Thorendal und die anderen Vier.
Im Auge des Sturms ist es still, dachte Chiara gerade, als Thorendal ihr seine eiskalte Hand auf die Schulter legte.
"Das sollte genügen. Die Menschen haben erst einmal damit zu tun, dieses Durcheinander aufzuräumen. Die kümmern sich nicht um einen, der das Krankenhaus auf eigenen Beinen verlässt. Und wenn das hier erst einmal vorüber ist, erinnert sich niemand mehr an einen Unterkühlten." Er lachte.
"Ach, noch etwas: Es wird keine Toten geben und keine Schwerverletzten. Mehr kann ich nicht für dich tun, Chiara Ichhabethorendalgeschlagen."
Über sein Gesicht huschte der Anflug eines Lächelns, dann drehte er sich um und stürzte sich wieder in die wirbelnden Flocken. Die nächste Bö trieb Chiara durch den Eingang des Notfallzentrums.
Drinnen herrschte heilloses Durcheinander. Keine Schwerverletzten, dafür unzählige kleine und mittlere Blessuren. Knochenbrücke, Quetschungen, Schnittverletzungen. Menschen, die schrecklich froren. Menschen, die jammerten. Menschen, die schimpften. Dazwischen Personal, das die Situation längst nicht mehr beherrschte.
Chiara kämpfte sich durch das Gewühl. In den Gängen herrschte ähnliches Chaos wie am Empfang. Schiebend und schubsend kam sie voran. Damit fiel sie nicht auf, das taten alle. Nach schier endloser Zeit erreichte sie den Raum, in dem Eldoran liegen musste. Die Innenjalousien waren heruntergelassen. Die Tür war verschlossen. Chiara rüttelte daran. Mehle?
Die Tür wurde einen Spalt breit geöffnet und Chiara in den Raum gezogen. Hinter ihr sperrte Mehle wieder ab. Sie strahlte. Auf dem Bett saß Eldoran und rieb sich den Arm, in dem bis eben eine Kanüle gesteckt hatte.
"Wie geht es dir?"
"Gut."
"Er möchte schon wieder die Welt erobern", mischte sich Mehle ein. "Aber man sollte noch ein wenig auf ihn Acht geben, damit er sich nicht übernimmt. Aber du, erzähl schnell, was passiert ist. Wie hast du Thorendal dazu gebracht, dir zu helfen? Das da draußen ist doch sein Werk, oder?"
"Jaja, das hat er angezettelt", erwiderte Chiara in schnodderigem Ton. "Schneestürme kann er am besten."
"Aber nicht ohne Gegenleistung. Was hast du ihm dafür gegeben?"
Mehle musterte Chiara. "Doch nicht die Schwerter?"
"Die wollte er nicht. Sie nutzen ihm nichts, wenn er keinen Sohn hat. Das weißt du doch, Mehle."
Die alte Magierin nickte. "Ja, das wusste ich", sagte sie leise. "Und was…"
"Ich habe ihm versichert, dass ich die Blutlinie fortsetzen werde. Söhne großziehen und so."
"Du hast was?" fauchte Mehle.
"Neiiin!" Eldorans Aufschrei klang wie der eines gequälten Tieres. Er sackte auf dem Bett zusammen, als wäre sämtliche Kraft aus ihm entwichen.
Chiara sprach in ihrem oberflächlichen Tonfall weiter, als hätte es die Unterbrechung nicht gegeben: "Gefallen hat ihm das nicht, aber er sagte, es gäbe ein uraltes Gesetz, dass die Blutlinie wichtiger ist als der Zirkel. Er musste gehen."
Auf Mehles Gesicht breitete sich ein verstehendes Lächeln aus, das zu einem Strahlen wurde.
Eldoran setzte sich wieder auf: "Aber mit wem?" Er schüttelte den Kopf, als könne er nicht begreifen, was er da eben gehört hatte. "Du meinst?"
Chiara sah mit einem Mal verlegen aus.
"Naja", gab sie kleinlaut zu, "ich habe behauptet, ich werde deine Frau. Nun müssen wir das wahrscheinlich auch tun, sonst kommt er womöglich wieder."
"Na, und ob wir das tun!" Eldoran sprang auf und wollte Chiara umarmen. Doch seine Knie knickten ein, so dass er sich nur noch an seiner künftigen Frau festhalten konnte, um nicht zu fallen.
Chiara schlotterte: "Huh, bist du kalt."
"Nicht so kalt wie Thorendal und sein Blizzard." Er hatte sich wieder gefangen.
Mehle räusperte sich: "Wir müssen los. Wenn Thorendal fort ist, wird sein Sturm bald nachlassen. Dann müsst ihr wenigstens auf dem Weg sein. Es wird ein weiter Weg, denn ihr werdet die ganze Strecke zu Fuß gehen müssen."
"Das schaffen wir schon", entgegnete Eldoran zuversichtlich. "Wir können uns ja gegenseitig stützen."
Mehle hob mahnend den Finger: "Eldoran! Keine Magie bis ihr am Herrenhaus seid."
"Keine Sorge." Er rieb sich den Arm mit der Einstichstelle. "Einmal auffallen reicht mir."
"Dann los jetzt."
Auf dem Gang mischten sie sich ins Gewühl und gelangten unbehelligt nach draußen. Vor dem Eingang, etwa an der gleichen Stelle, an der sich Thorendal vorhin verabschiedet hatte, blieben sie stehen.
Mehle legte Chiara beide Hände auf die Schultern: "Mach es gut, mein Kind. Du hast deinen Weg gefunden. Vielleicht sehen wir uns wieder, wenn du eine große Magierin geworden bist."
"Mehle, meinst du nicht, du bist im Herrenhaus besser aufgehoben, als hier? Warum kommst du nicht mit uns?"
"Weil ich hier noch etwas zu erledigen habe."
"Kannst du das nicht einfach lassen?"
"Oh nein, das kann ich nicht. Ich werde eine Vermisstenanzeige aufgeben. Eine von vielen in diesen Tagen. Und irgendwann werde ich meine liebe junge Nachbarin betrauern, die nach dem Großen Unwetter nie mehr gesehen ward."
Sie wandte sich ab und war so schnell verschwunden, dass Chiara sicher war, dass Mehle soeben genau das getan hatte, wovor sie Eldoran gewarnt hatte. Magie angewendet, mitten in der Stadt voller aufgebrachter Menschen.
Chiara hakte sich bei Eldoran unter, der sich gar nicht mehr kalt anfühlte. An seiner Seite machte sie sich auf den langen Fußmarsch zum Herrenhaus, auf den Weg in ihr neues Leben.
 
 
ENDE