Mira Wunder und das Wollkombinat wünschen allen Besuchern eine märchenhafte Adventszeit.

Der Augenblick dehnte sich zur Ewigkeit, in der sich Chiara inständig wünschte, sie könnte mit dem Mauerwerk hinter ihr verschmelzen und unsichtbar werden. Ihr Gegenüber verharrte noch immer und starrte sie unverwandt an. Seine wasserblauen Augen waren so kalt, dass Chiara ein Schauer über den Rücken lief. Jetzt runzelte er die Stirn, legte den Kopf schief, als lausche er. Dann zuckte er die Schultern, kehrte ihr den Rücken und gesellte sich wieder zu den anderen.
"Da war nichts!"
"Aber ich hätte schwören können, dass ich eine fremde Magie…"
"Schluss jetzt!" herrschte der größte der Fünf die anderen an. Er war der einzige, der Chiara jetzt noch das Gesicht zuwandte, doch er sah nicht zu ihr herüber, sondern richtete seinen Blick auf etwas, das sich innerhalb des Kreises befand, den die Fünf umstanden.
"Wir haben wichtigeres zu tun", sagte er gerade, dann begann das Gemurmel in der unverständlichen Sprache aufs Neue.
Chiara stand noch immer wie gebannt von dem eisblauen Blick an der Mauer.
Er hat mich nicht gesehen, ging es ihr durch den Kopf und wurde zur Gewissheit: Sie spüren, dass ich da bin, aber sie können mich nicht sehen.
Das Gemurmel wurde unterbrochen: "Und da ist doch jemand. Oder etwas. Ich spüre das doch."
"Gerodan", die Stimme des Großen klang süßlich, "würdest du die Güte haben, dich auf die Formel zu konzentrieren?" Und dann in scharfem, wütendem Ton: "Sonst brechen wir den Fluch des Schwertes nie."
Gotahardt! Sie hatten Zweihänder und versuchten offenbar, irgendeinen Zauber an ihm auszuführen. Das erinnerte Chiara an den Zweck ihres Hierseins. Sie sollte Eldoran retten. Doch wo mochte er sein, wenn diese Schurken dort sein Schwert hatten. Gleich darauf fiel ihr ein, dass es nicht Eldoran gewesen war, den sie zuletzt mit Gotahardt gesehen hatte. Sie schaute hinüber zur Tür des Laboratoriums. Wenn sie Klarheit darüber gewinnen wollte, was hier geschehen war, dann musste sie dort hin. Zögernd setzte sie sich in Bewegung. Dabei hielt sie sich noch immer dicht an der Mauer und ließ die Augen nicht von der Fünfergruppe in der Mitte der Halle. Deshalb übersah sie ein Eisenstück, das in die Wand eingelassen war und früher einmal als Halterung für einen Leuchter oder anderen Zierrat gedient haben mochte. Mit dem Ärmel blieb sie daran hängen und die bunte Wolle riss mit einem seltsamen Geräusch, das Chiara laut wie Donnergrollen in den Ohren dröhnte.
Jetzt war es der Große selbst, der das beschwörende Gemurmel unterbrach. Sein Kopf ruckte nach oben und er schaute genau in Chiaras Richtung.
Du siehst nur die Mauer, sonst nichts, dachte Chiara. Sie spürte den Laut mehr, als sie ihn hörte. Ein hohes Sirren, wie wenn ein Pfeil von der Sehne schnellte. Instinktiv duckte sie sich und huschte ein paar Schritte weiter hinter eine Säule. An der Stelle, an der sie eben noch gestanden hatte, glitzerte die Wand von tausenden Eiskristallen und das Eisenstück war mit einer mehrere Zentimeter dicken Eisschicht überzogen, aus der noch ein roter Wollfaden von ihrer Jacke hervorlugte. Das hatte ihr gegolten, und wäre sie nicht so schnell davon gehuscht, wäre sie jetzt wohl eine Statue aus Eis. Entsetzt starrte sie den Magier an. Er kam ihr seltsam bekannt vor. Dann wusste sie es: Trotz der weißen Kleidung und seiner eisgrauen Locken war die Ähnlichkeit zu Balendar unverkennbar. Das da drüben musste Thorendal sein.
"Wer bist du?", dröhnte jetzt die Stimme des Großen durch die Halle. "Zeige dich."
Ich denke ja gar nicht daran. Du siehst mich nicht, und dabei soll es auch bleiben, dachte Chiara und wechselte noch einmal sehr rasch ihren Standort. Thorendal starrte auf die Säule, hinter der sie eben noch Zuflucht gefunden hatte. Eine neue Vermutung stieg in ihr auf. Keiner von euch kann mich sehen, aber ihr ahnt ungefähr, wo ich bin. Sie richtete den Blick auf die Tür, die ihr Ziel war. Und wenn ich euch nicht anschaue, werdet ihr mich auch nicht mehr spüren.
Sie lauschte, doch von den Magiern kam keine Reaktion auf ihre Gedanken. Ob einer von ihnen in ihre Richtung schaute, konnte sie freilich nicht wissen. Aber sie wagte nicht, sich davon zu überzeugen, um die Fünf nicht erneut auf sich aufmerksam zu machen. Sie musste sich einfach darauf verlassen, dass ihre letzten Schritte bis zum Laboratorium unbemerkt blieben.
Dann hatte sie die Tür erreicht. Vom vergangenen Abend wusste sie, dass sie beim Öffnen nicht knarrte. Also zog sie sie ein Stück auf und schlüpfte hindurch. Wie beim letzten Mal blieb sie auf der Schwelle wie angewurzelt stehen und betrachtete den verwüsteten Raum. Das Feuer im Herd war erloschen. Der Kupferkessel lag am Boden. Zerfetzt, als wäre in ihm etwas explodiert. Regale waren umgestürzt und die Gläser, Flaschen und Kolben, die darin gestanden hatten, lagen zerschellt auf den Dielen. Zwischen den Scherben hatten die verschieden farbigen Flüssigkeiten bunt schillernde Lachen gebildet. Die Stühle und selbst der schwere Eichentisch waren zertrümmert und die Deckenbalken, von denen die Kräuter herabgebaumelt hatten, waren versengt.
Mitten in all dem Chaos fand sie Eldoran.
Er lag dort, wie aufgebahrt, das dunkle Schwert auf der Brust, die Hände über dem Heft gefaltet. Sein Gesicht war eine wächserne Maske. Ein nie gekanntes Gefühl übermächtiger Trauer ergriff von Chiara Besitz. Sie kniete neben Eldoran nieder, schlang die Arme um seine Schultern. Ihre Wange lag an seinem kalten Gesicht und ein paar einzelne Tränen rannen darüber hinweg.
Von der niedrigen Decke rieselte Schnee herab und deckte die beiden zu.