Mira Wunder und das Wollkombinat wünschen allen Besuchern eine märchenhafte Adventszeit.

Als Chiara die Augen wieder aufschlug, war sie allein. Was geschah hier mit ihr? Hatte sie das alles nur geträumt? Oder verlor sie langsam den Verstand? Was war da vorhin mit Frau Mehle gewesen?
Mit einem Ruck richtete sie sich auf. Sie musste sich entschuldigen. Die alte Frau war so besorgt um sie gewesen, wie schon seit langer Zeit niemand mehr, und sie misstraute ihr und belog sie. Das hatte die gutmütige Alte nicht verdient.
Chiara huschte kurz ins Bad, um sich ein wenig frisch zu machen. Als sie ihr Spiegelbild sah, erschrak sie. Was war in diesen zwei Tagen aus ihr geworden? Tiefe Ringe lagen unter ihren Augen. Ihre Haut wirkte grau und kraftlos, das Haar stumpf. Ihre Augen glänzten fiebrig. War das überhaupt noch sie, die ihr da aus dem Spiegel entgegen starrte? Sie musste zu Frau Mehle. Nicht nur, um sich zu entschuldigen. Die alte Frau hatte eine Menge Erfahrung. Vielleicht hatte sie eine Ahnung davon, was mit Chiara los war. Vielleicht wusste sie sogar, was man dagegen tun konnte.
In der Küche schnappte Chiara sich die Dose mit selbstgebackenen Haferkeksen. Die machte sie das ganze Jahr hindurch, nicht nur in der Weihnachtszeit. Einen Moment lang stand sie mit der Büchse in der Hand nachdenklich da. Wie weit das alles zurück lag. Als stammten diese Erinnerungen aus einem anderen Leben. Ein Leben, das vorüber war. Das sie verlassen hatte, als sie Eldoran auf der Lichtung traf. Ein Leben, in das sie nicht zurückkehren konnte. Sie wollte aber zurückkehren. Und Frau Mehle würde ihr dabei helfen. Wenn sie konnte. Sie musste das ganz einfach können, denn Chiara kannte sonst niemanden, an den sie sich hätte wenden können.
Mit einem Ruck riss sie sich von ihren Gedanken los, ging hinüber und klopfte an Frau Mehles Tür. Beinahe sofort, so als hätte sie bereits hinter der Tür gewartet, wurde diese geöffnet und Chiara hielt überrascht die Luft an. Die alte Dame stand vor ihr und sah tatsächlich wie eine Dame aus. Sie trug ein bodenlanges Kleid aus bleigrauer Seide, dessen Saum mit einer kunstvollen Stickerei verziert war und darüber eine Art Mantel aus ebenso grauem Samt. Ihr Haar, das sie sonst immer in einem strengen Knoten trug, fiel über ihre Schultern bis zum Gürtel herab und glänzte wie pures Silber. Mit einem Mal sah sie gar nicht mehr alt aus. Nur unendlich gütig und weise.
"Da sind Sie ja endlich. Nun, dann kommen Sie mal herein."
Mit einer Geste gab sie die Tür frei und Chiara betrat den Flur. Sie war noch nie in Frau Mehles Wohnung gewesen. Als sie vor Jahren einmal zu einem dreiwöchigen Lehrgang geschickt worden war, hatte sie Frau Mehle ihren Wohnungsschlüssel gegeben, damit diese die Blumen gießen konnte. Bei ihrer Rückkehr hatte Frau Mehle dann verkündet, sie werde den Schlüssel behalten, für Notfälle, und Chiara hatte nichts dagegen eingewendet. Benutzt hatte Frau Mehle den Schlüssel danach allerdings nie. Die beiden Frauen waren sich meist zufällig im Treppenhaus begegnet, und Chiara hatte den Verdacht, dass Frau Mehle diesem Zufall manchmal ein wenig nachgeholfen hatte. Dabei war es geblieben. Es hatte keinen Notfall gegeben. Bis heute.
Langsam, beinahe vorsichtig, als könne bei jedem Schritt eine neue Überraschung auf sie warten, ging Chiara den Flur entlang. Durch die offene Küchentür fiel Sonnenlicht herein und beleuchtete die Wände in freundlich hellem Gelb.
Frau Mehle dirigierte sie zum Wohnzimmer. Diese Tür war geschlossen. Als Chiara sie öffnete, entfuhr ihr ein überraschter Laut. Wie oft war ihr das in den letzten Tagen nun schon passiert? Sie musste unbedingt an sich arbeiten, nicht jedes Mal vor Überraschung zu erstarren, wenn sie etwas Unerwartetes sah. Der Raum war mit niedrigen Regalen aus hellem Holz liebevoll eingerichtet. In der Mitte standen über Eck zwei zierliche Sofas mit edlen Satinbezügen. Dazwischen auf einem niedrigen Tisch sah Chiara zwei Teegedecke und auf einem Stövchen eine Teekanne aus sehr feinem und gewiss sehr teurem Porzellan. Die gesamte Einrichtung passte überhaupt nicht zu dem Bild, das sich Chiara bisher von Frau Mehle gemacht hatte, wohl aber zu der Erscheinung, die die alte Dame an diesem Nachmittag bot. Dies alles überraschte Chiara aber nicht so sehr, wie die schweren Vorhänge, die vor die Fenster gezogen worden waren und die unzähligen Kerzen, die den Raum erhellten. Sie standen auf allen Regalen, nahezu auf jeder freien Fläche, sogar auf dem Fußboden.
"Ich weiß nicht, was hier in den nächsten Stunden passieren kann", hörte sie Frau Mehles ruhige, klare Stimme hinter sich, "aber es muss nicht unbedingt sein, dass die gesamte Nachbarschaft etwas davon mitbekommt. Deshalb die Vorhänge. Nun setzten Sie sich doch."


Schweigend und staunend kam Chiara der Aufforderung nach und ließ sich auf einem der Sofas nieder. Die Keksdose hielt sie auf dem Schoß und klammerte sich daran fest, als sei sie das einzig Wirkliche in diesem Raum, ja in ihrem gesamten Leben.
Frau Mehle kam zum Tisch und schenkte Tee ein. Als sie Chiaras skeptischen Blick bemerkte, lachte sie leise.
"Nur Kräuter. Melisse, Salbei, Eberraute. Beruhigend und belebend zugleich. Trinken Sie, es wird Ihnen gut tun."
Chiara nahm einen vorsichtigen Schluck. Als nichts geschah, trank sie die zierliche Tasse leer. Frau Mehle schenkte nach. Dann setzte sie sich auf das andere Sofa, lehnte sich zurück und betrachtete Chiara eine Weile.
"Nun, dann erzählen Sie mal."
"Ich, ich", stotterte Chiara. "Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Ich wollte mich entschuldigen, weil ich so"
Sie brach ab. Weil Frau Mehle schweigend abwartete, begann Chiara von Neuem:
"Ich glaube, ich werde verrückt."
"Verrückt wird hier niemand", sagte die alte Dame beruhigend. "Es gibt nur eine Menge Magie da draußen, auch außerhalb des Waldes, die nicht angewendet und nicht gezähmt wird. Wenn sie unkontrolliert zu wirken beginnt, geschehen zuweilen Dinge, die kein normaler Mensch begreift. Deshalb sind wir jetzt hier."
Chiara hob den Blick von ihren Händen, die noch immer die Keksdose umklammerten und sah ihrer Nachbarin in die Augen.
Diese beugte sich nach vorn und erwiderte den Blick.
Leise sagte sie: "Hab keine Angst, mein Kind. Erzähl mir einfach, was da draußen geschehen ist. Und hör mit diesem Frau Mehle auf. Ich bin Mehle. Nichts weiter. Das war ich schon immer." Der Blick der alten Frau richtete sich in weite Ferne, und mit einem Mal sprudelte aus Chiara alles heraus, was sie in den letzten beiden Tagen erlebt hatte oder erlebt zu haben glaubte. Alles, wovon sie nicht wusste, wie sie es einordnen sollte. Alles, was ihr Angst machte.